Der Bildungsstreik hat gerade erst begonnen – und schon tun sich die ersten Schwierigkeiten auf. Seitdem es am Otto-Suhr-Institut halbe Streiks gibt, weiß unser Autor Martin Lejeune nicht mehr, was er machen soll. Von Martin Lejeune.
Als ich heute Mittag vor meinem Institut stand, kam ich nicht hinein. Das war zuletzt so zwischen dem Weihnachts- und Dreikönigsfest, als wegen einer Energiesparmaßnahme das Institut samt Bibliothek ohne Ankündigung geschlossen blieb. Diesmal jedoch war Streik. Meine Kommilitonen hatten die Eingänge blockiert, Streikposten errichtet, das Institut besetzt und die Büros geräumt beziehungsweise versucht zu räumen, da einige Dozenten an ihrem Arbeitsplatz ausharrten. Gewalt wurde nicht angewendet. Wie ich meine Kommilitonen streiken sah, beschloss auch ich zu streiken.
Habe ich in Gedanken Streik gebrochen?
Doch sofort kam mir der Gegengedanke, nach zuschauen, ob es nicht noch einen nicht blockierten Seiteneingang zur Bibliothek gibt. Schließlich hatte ich Bücher aus dem Außenmagazin bestellt, die ich für meine Hausarbeiten benötigte. Plötzlich war ich mir nicht mehr klar darüber, ob ich jetzt noch streike oder nicht? Habe ich in Gedanken schon den Streik gebrochen, als ich an die abzuholende Bestellung in der Bibliothek dachte? Ich löste das Problem, indem ich beschloss, erst mit dem Streiken zu beginnen, nachdem ich die Bücher abgeholt haben werde. Doch soweit kam es nicht, auch der Seiteneingang zur Bibliothek war blockiert.
Die Hausmeister hatten sich solidarisiert
Die Hausmeister des Instituts hatten sich mit den Studenten solidarisiert und alle Eingänge des Instituts elektronisch geschlossen. Während ich, inzwischen fest davon überzeugt, zu streiken, mit meinen ebenfalls streikenden Kommilitonen auf der Straße vor dem Institut über den Streik diskutierte, traf ich zwei Kommilitoninnen mit Universitätsbibliothek-Plastiktüten und Büchern. Diese beiden Nicht-Streikenden, von denen eine gewerkschaftlich organisiert ist, wichen von der geschlossenen Institutsbibliothek auf die noch geöffnete Universitätsbibliothek aus. “Wir haben keine Zeit zu streiken”, erklärt mir die eine ihre Situation. Ob sie zumindest am Mittwoch zur zentralen Kundgebung am Alex komme? “Ich gehe nicht. Ich bin egoistisch und kümmere mich um meine Angelegenheiten.” Sie bereitete sich gerade auf ihre mündliche Prüfung vor. Tatsächlich werden Prüfungen trotz des Streikes nicht verschoben. Das Prüfungsbüro ist trotz Institutsbesetzung geöffnet und Prüflinge dürfen trotz Streikposten im Institut ein – und ausgehen sowie die Bibliothek benutzen. So ähnlich ist es auch in Frankreich, wo die streikenden Studenten für die Prüfungszeit gerade ihren Streik unterbrechen. Allerdings dauerte dort der Streik schon einige Wochen.
Halbe Streiks?
Gibt es also nicht nur ganze Streiks, sondern auch halbe Streiks? Streiks, in denen die Vorlesung verhindert wird, die Prüfung aber ungehindert stattfinden kann? Dabei muss ich in einigen Wochen über die gerade verhinderte Vorlesung auch eine Prüfung schreiben und dürfte eigentlich keine einzige verpassen. Wenn es also schon offiziell von der Streikleitung her einen halben Streik gibt, kann dieser halbe Streik dann auch für mein Tagewerk gelten? Könnte ich dann zwar tagsüber nicht zu den Vorlesungen gehen, aber abends doch an meinen Hausarbeiten schreiben? Oder soll ich mich doch den Vollzeitstreikenden anschließen, die in mehreren Schlafgruppen organisiert in den Institutseingängen übernachten, um den privaten Werkschutz abzuwehren und dabei bis zum Morgengrauen über den Kapitalismus diskutieren? Das wäre historisch die richtige Entscheidung.
Rechtfertigen Altlasten meinen Teilzeitstreik?
Doch habe ich mich schon heute diesem Druck, meine Hausarbeiten weiterzuschreiben, die zum Teil noch Altlasten aus 2007 sind, gebeugt. Bei mir handelt es sich, rede ich mir ein, um eine besondere, weil selbst verschuldete Situation, wegen der Altlasten und rechtfertige so meinen Teilzeitstreik. Dabei hängt im Bildungssystem einiges schief, mir fallen gleich mehrere Dinge ein. Der Staat erfüllt seine Funktionen nicht mehr: In zahlreichen neuen Büchern der Bibliothek der FU kleben Hinweise: “Mit freundlicher Unterstützung von Siemens.” An der Technischen Univeristät und der Universität der Künste ist gleich die ganze Bibliothek von Volkswagen. Die Soziologie existiert als Fach nicht mehr an der Freien Universität. Stattdessen gibt es einen großen Sonderforschungsbereich zur Analyse der Ursachen von innerstaatlichen Kriegen und Konflikten in der Dritten Welt. Es wird danach geforscht wie die Konflikte durch Eingriffe aus der Ersten Welt beendet werden können, damit Deutschland die “befriedete” Region zwingen kann, seine Waren abzunehmen. Ich finde: Wissenschaft dient viel zu sehr den Kapitalinteressen und wird zum Teil auch durch Unternehmen finanziert. Und dagegen lohnt es sich zu streiken. Trotzdem streiken viele Studierende, darunter auch ich, bisher nur Teilzeit oder gar nicht.
Wie sehr müssen sich die Verhältnisse also noch verschlechtern, bis ich Vollzeit streike?
Lieber Jens,
es braucht vielleicht keinen Hegel und Brecht um auf die Straße zu gehen und zu kämpfen. Aufgabe der Intellektuellen ist es jedoch, den Kampf zu reflektieren.
@ Daniel
Oder mit einfachen Worten: Man müsste eigentlich streiken weil es notwendig ist, kann aber nicht weil ich damit meinen universitären Verpflichtungen nicht nachkäme.
Was ein Erkenntnisgewinn. Dafür braucht es weder Brecht noch Hegel.
“Wer seine/ihre Lage erkannt hat, wer soll den/die aufhalten?”(nach Bert Brecht)
Selbstreflexion ist ein anderer Name für Aufklärung. Für Hegel und die Linkshegelianer bedeutet das jedoch keine subjektive Nabelschau oder ein meditatives In-sich-kehren, sondern der objektiven Vermittlung des eigenen, individuellsten Standpunktes nachzuspüren. Objektive Strukturen können bis in die intimsten Gedanken und Gefühle durchschlagen, sodass es ein großer Fehler wäre anzunehmen, Gefühle wären immer etwas Weiches, Wandelbares, gar Spontanes. Sie können härter als Beton werden, und in die allereigensten Vorlieben konstituieren sich manchmal verblüffend offensichtlich durch die objektive soziale Lage und deren Widersprüche und Aus- und Abgrenzungen – Alle die schon mal in der deutschen Oper, in einem Hauptseminar in Ethnologie oder bei einem Fussballspiel waren, können gewisse Regelmäßigkeiten(10%Ausnahmen gibt es immer) entdecken, oder eben auch warum eine studentische Teilzeitkraft eben sich einen Streik z u n ä c h s t auch als Teilzeitstreik vorstellt.
Diese Selbstreflexion führt im günstigsten Falle nicht etwa zur Kapitulation vor objektiven Widersprüchen, die uns alle durchziehen, sondern zur sit venia verbo Kaputtulation dieser Widersprüche, das heißt Auswege ergeben sich nur auf der subjektiven Seite, die sich durch und durch durch die objektive Schlüsselgewalt vermittelt erkennt. Objektive Strukturen verhärten sich nur in Subjekten, sie brauchen sie. Sie werden um so stärker, je mehr sie es schaffen, den Subjekten einzutrichtern, dass nur sie selber für ihre Lage verantwortlich sind, und dadurch vergessen macht, dass ein Subjekt das Ensemble seiner gesellschaftlichen mehr oder weniger reichen Beziehungen ist.
So wie nur in der politischen Ökonomie der Arbeitskraft Potenziale der Emanzipation vom Verhängniszusammenhang der politischen Ökonomie des Kapitals zu suchen sind, kann nur eine proletarische Gegenöffentlichkeit die rudimentäre bürgerliche Öffentlichkeit so erweitern, dass erkennbar wird, wie das alles produziert worden ist, was dann in der Tagesschau als ‘Fakt’ oder ‘Nachricht’ verlesen wird. Nur wenn diese als Resultate eines Produktionsprozesses begriffen werden, erschließen sich Möglichkeiten, wie alles anders hätte kommen können und immer noch kann, weil nur dadurch der Blick auf all die Millionen winzigen subjektiven Entscheidungen möglich ist, die jede Meldung produzieren, und immer auch hätten anders ausfallen können.
Martins Beitrag ist ein Schritt in diese Richtung. Indem er exemplarisch die Widersprüche seiner persönlichen Haltung zum Streik aufschreibt, objektiviert er er sie einerseits bereits ein Stück weit, wodurch einsichtig werden kann, warum die Mehrheit der Studenten bis heute noch nicht aktiv mitstreikt, und bereitet andererseits die praktische Austragung der Widersprüche vor, da das Beschreiben der eigenen Haltung und Lage schon eine minimale reflexive Distanz zu ihr voraussetzt.
Lieber Jens,
ich phantasierte, Deine Gitti sei bei Oma Gertrude besoffen auf dem Sofa gelegen wegen dem vielen Amaretto im Café. Ich bin weder Student der Publizistik noch Journalist. Gott behüte mich vor diesem würdelosen Dasein als Schreiberling. Ich bin Student und nehme soweit es meine Kraft zuläßt am Unistreik teil. Und berichte nicht distanziert über Sachen von denen ich keine Ahnung habe und nicht “drin stecke” wie es die Damen und Herren in der Tagesschau und bei “heute” machen, sondern gehe aus der Perspektive meines Statuses in der Gesellschaft den Konflikten in meinem sozialen Umfeld nach. Das ist kein Journalismus. Das ist gelebte Öffentlichkeit, entstanden aus Auseinandersetzungen aufgrund des eigenen Status. Und das ist die historische Möglichkeit des Internets. Die Süddeutsche Zeitung würde mir niemals eine Stimme geben. Aber Furios tut es. Und auch Dir. Schreibe Du auch, Jens, wenn Du willst, worüber Du willst, was Du willst. Und dann werde ich Dich kritisieren.
Lieber Martin,
wer war denn deiner Meinung nach besoffen auf der Couch zu Hause? Oder dient dein Beispiel nur der Verbildlichung?
Nun aber zum wesentlichen: Ich finde es schön das du uns an der Dialektik deines Seins teilhaben lassen willst. Der Inhalt ist klar. Aber die Relevanz? Ich studiere nicht Publizistik, aber inwiefern stellt eine Darlegung deiner Gefühle der Leserschaft einen journalistischen Inhalt mit Bedeutung für die Öffentlichkeit dar?
Herzliche Grüße,
Jens
Lieber Jens,
ich war ja da und nicht besoffen auf der Couch zu hause. Ich war auch heute da. Und ich mache mit. aber ich hardere. weil da diese pflichten, dieser druck des systems ist, den ich nicht komplett ausblenden kann. Diese Selbstentfremdung der Kopflanger, diese innere durch die Verhältnisse verursachte Dialektik, das zu schildern, und das geht nur subjektiv, das kann dann durch andere Studenten, auch wenn sie anders denken und handeln, mit Empathie nachvollzogen werden
Wem nützt diese subjektive Erörterung? Wenn sich der Autor nicht dazu durchringen kann zu streiken, dann soll er es nicht tun. Wenn er aber meint es gibt was zu verändern, dann soll er streiken gehen. Jedenfalls glaube ich nicht das man diese persönliche “Erörterung” auf den Großteil der Studentenschaft umschlagen kann. Und wo das Motiv eine Meinung abzubilden nicht umgesetzt wird, verkommt so ein Artikel zum Tagebucheintrag. Ich bin froh über die laufende Berichterstattung, aber bitte versucht nicht um jeden Preis die Quantität forcieren. Das erinnert mich an diese langweilige Kategorie in den meisten Tageszeitungen : Wie haben unsere Leser den Mauerfall erlebt? Gitti war bei Oma Gertrude Kaffee trinken und weil sich beide soviel Amaretto in die Tasse gegossen haben, verschliefen sie das Ereignis. Heiner war mit Kumpels im Stripclub und hat sich dann die schönen ostdeutschen Frauen angeschaut.
Also befragt Leute, bringt Interviews oder Reportagen, aber hört auf mit langweiligen Erörterungen die einen an den Leistungskurs in der Schule zurückerinnern: “Thema: Wie erlebe ich den Streik – Pro und Contra”
Gruß Jens
Streik ist ne tolle Sache- erzwungener Streik ist einfach blanker Müll
ja, stefan, etwas unglücklich formuliert, doch ohne VW könnte diese Bibliothek nicht betrieben werden, weil es sie nicht gäbe. mit dem namen hat VW außerdem eine langfristige verpflichtung, falls die Bibliothek in Geldnöte kommen sollte
Ich bin das allergrößte Schwein – ich lasse mich nicht auf’s Streiken ein 🙂
Der Volkswagen-Konzern steuerte 5 Millionen Euro zu den Baukosten der TU-UdK-Bibliothek bei, ohne die diese übrigens wahrscheinlich heute noch nicht fertig wäre. Dass der Konzern jetzt auch die Bibliothek selbst betreibt, das glaube ich eher nicht. 🙂