Kapitalismus auf Tschechisch

Die Moldau-Metropole war vor 20 Jahren Schauplatz einer historischen Botschaftsbesetzung. Heute bietet Prag nicht nur die damals lang ersehnte Freiheit sondern auch viel Prunk und Kommerz, findet Christina Bauermeister.

Ein Trabi mit Beinen vor der Deutschen Botschaft in Prag.Ein Trabi mit Beinen vor der Deutschen Botschaft in Prag.

Von Christina Bauermeister

„Ich bin heute gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise …“ der Rest des Satzes von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ging im frenetischen Jubel der rund 4000 DDR-Flüchtlinge unter. Sie alle hatten bis zum 30. September 1989 auf dem Botschaftsgelände der BRD ausgeharrt. Damals konnten sie ihr Glück kaum fassen. Heute, 20 Jahre danach, erinnert noch eine skurrile Statue eines Trabis mit menschlichen Beinen an das historische Ereignis.

Konsumtempel statt Einheitsgrau

Die wunderbar funkelnde Welt des Westens ist auch in der tschechischen Hauptstadt angekommen. Das sozialistische Einheitsgrau ist Konsumtempeln und Touristenschwaden aus aller Welt gewichen. Jährlich schieben sich mehrere Millionen Besucher durch das Altstadtviertel rund um die Karlsbrücke und auf die Prager Burg (Hradschin). Auf die vom Zweiten Weltkrieg weitgehend verschonten Kulturschätze sind die Prager stolz. Und die Stadt lässt sich die Instandhaltung der geschichtsträchtigen Bauten auch einiges kosten. Allein für die gegenwärtige Sanierung der Karlsbrücke wurden fast neun Millionen Euro veranschlagt.

Steuern für Besteck und Service?

Die Spuren von über 40 Jahren real existierenden Sozialismus sucht man hier vergeblich. Schätzungen zufolge arbeiten rund 100 000 Hauptstadtbewohner in der Fremdenverkehrsbranche, viele davon in der Gastronomie. Doch Vorsicht, viele Wirte zeigen sich mehr als einfallsreich, wenn es darum geht, den Rechnungsbetrag in die Höhe zu treiben. Da werden auf die Cola und den Snack schnell noch weitere Steuern oder Gebühren für Besteck und Service fällig. Und auch für den Besuch der meisten Sehenswürdigkeiten wie das Goldmachergässchen, das jüdische Viertel oder den Nachbau des Eiffelturms wird mittlerweile Bares verlangt. Ein kleiner Trost für Studenten: Auf die meisten Sehenswürdigkeiten gibt es Rabatt, und der liegt nicht selten bei 50%.

Regionale Souvenirs? Fehlanzeige!

Das größte Einkaufszentrum Prags, das Palladium, könnte auch in Berlin oder New York stehen. Es wird dominiert von internationalen Modeketten wie H&M, Orsay oder Esprit. Wer nach regionalen Souvenirs wie böhmischem Kristall oder Holzspielzeug sucht, wird enttäuscht. Hier erinnert nur das Zahlungsmittel, die nationale Währung Koruna česká (tschechische Kronen), die Besucher daran, wo sie sich gerade befinden.
Ein paar U-Bahn-Stationen abseits dieses westlichen Raumschiffs findet man es noch, das alte Prag. Unsanierte Plattenbauten und zerfallene Häuser prägen in vielen Außenvierteln noch immer das Stadtbild. Hier scheint es, als sei die Geschichte stehen geblieben, und die schöne glitzernde Welt nur ein wenig näher gerückt.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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