Was haben proletarische Bologneser und das linke Bildungsbürgertum gemeinsam? Eine Plapperpuppe namens Humboldt. Clara Herrmann und Sophie Jankowski über die schrägsten Auftritte des deutschen Bildungskaspers.
Wilhelm von Humboldt – leuchtende Galionsfigur der »wahren« Bildung. Moralische Keule im Kampf um unser kränkelndes Bildungssytem. Die Ritter der »Gralsburg der reinen Wissenschaft«, wie ein Professor in den 1920ern Humboldts Universität sakral-esoterisch verklärte, kämpfen heute um die letzten Schutzwälle. Es herrscht Grabesstimmung. Elite und Bologna sollen der Freiheit von Lehre und Forschung schwer zugesetzt haben. »Das humboldtsche Bildungsideal: life in agony«. Ein Melodram?
Soviel ist sicher: Das humboldtsche Bildungsideal anzutasten gilt als Kapitalverbrechen – als Mord an der guten deutschen Bildung. »Humboldts Universität ist tot!« verkündete 1997 der damalige »Zukunftsminister« Jürgen Rüttgers bei der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz in Siegen. Ein Aufschrei ging durch die Republik.
Eine schaurige Vorstellung. Das dachten sich wohl auch die Studenten des SDS an der Humboldt Universität Berlin. Als 2007 der Kampf um den Elitestatus entschieden war und die HU leer ausging, zelebrierten sie eine Trauerfeier. Sie trugen das »humboldtsche Bildungsideal« im Sarg zu Grabe (Youtube-Stichwort: »Exzellente Lehre statt nur Eliteforschung!«). »Elite für alle! Exzellente Lehre statt nur Eliteforschung«, so die Forderungen. Und während die einen die Leidens- und Sterbensgeschichte des traurigen Ideals in Szene setzen, schicken die anderen Humboldt in den Ring.
Im »University Death Match« von »ZuckerTV« (studentisches Internetfernsehen der Uni Köln) liefern sich Humboldt und Pinkwart, der seinerzeitige Innovationsminister von NRW, ein grandioses Knetfigurenmassaker. Die Waffen sind wohl gewählt: Pinkwart rammt Humboldt mit Bachelorknife und einem dicken Koffer voller Drittmittel in den Boden und Humboldt antwortet mit einem heimtückischen »Bildung für alle«-Banner. Eliteagenten in Anzügen und Proteststudenten bilden die Nachhut.
»Both claim to be the protector of the Bildungsfreiheit … but what the fuck does that mean?«, so der Kommentator des Kampfes. Eine berechtigte Frage, wie wir finden. Worum geht’s hier überhaupt? Und wer ist eigentlich dieser Wilhelm? Alexander, den kennt man. Der Weltenbummler, dessen Name zahlreiche Orte, Landschaften und Tiere (Spheniscus humboldti – ein Pinguin) ziert, läuft seinem Philosophenbruder den Rang ab. Da hilft alle Imagepflege nichts. Dem humboldtschen Bildungsideal ergeht es nicht besser. Sein größtes Vermächtnis ist eine bekannte, aber substanzlose Phrase. Und dennoch sind sich alle einig: Das Ideal muss geschützt werden. Gerade so als hätte man es mit besagtem humboldtschen Frackträger zu tun, der irgendwo an der Westküste Südamerikas vor sich hin wackelt und mit unserem Leben nicht mehr zu tun hat als die monatliche Überweisung an die Tierschutzorganisation.
In der aktuellen Bildungsdebatte geistert das Ideal durch Bücher und Diskussionsrunden, liegt schwer in aller Munde und scheint variablengleich in jede Argumentation einsetzbar. »Das einstige humboldtsche Bildungsideal vom kritischen und freien Denken findet in den aktuellen neoliberalen Schulreformen mit Kopfnoten und G8 keinen Platz mehr«, heißt es im Parteiprogramm der münsteraner Linken. Von der positiven Beeinflussung des Menschen durch Kunst und Kultur »im Sinne des humboldtschen Bildungsideals« spricht aber gerade Westerwelle beim Kulturfrühstück der FDP-Bundestagsfraktion in Köln. Wer ist hier der Mörder und wer betreibt propagandistischen Artenschutz? Die Konfusion ist perfekt.
An der FU sieht es nicht anders aus. Laut dem AStA hat die »auf dem Reißbrett von Eliten« entworfene heutige Bildungsstruktur der FU mit Freiheit und Einheit von Lehre und Forschung nicht viel zu tun. »Ungleich, unfrei und entsolidarisiert« seien ihre Prädikate, Studiengebühren, Bachelor-/Mastersystem und die Exzellenzinitiative mit dem humboldtschen Bildungsideal unvereinbar. Das Studium »einfach mal fünf Semester länger« dauern lassen – eine ganz eigene Auslegung von Bildungsfreiheit. Diese Positionen formulierte der AStA in einer Rede auf der Immafeier 2008. Die Verwirrung der Erstsemester muss groß gewesen sein, hatte doch ein paar Minuten zuvor FU-Präsident Lenzen, ein laut AStA »markanter Vertreter der neoliberalen Ideologie«, die FU als »modernisierte Wiederauferstehung des humboldtschen Universitätsgedankens« bezeichnet und von der »Einsamkeit« des Lernenden als eines der Grundprinzipien des humboldtschen Bildungsideals erzählt.
Der von ausgesuchten Privatlehrern unterrichtete Wilhelm, der nie eine Schule von innen sah, dient offenbar ebenso vorzüglich der Legitimation studentischer Freiheitsansprüche wie als Vordenker einer einsamen Elite und Wegbereiter der Exzellenzuniversität. Lenzen als Universitätsherrscher von Humboldts Gnaden einer autoritär geführten »Gralsburg der reinen Wissenschaft«? »Die Uni bin ich« betitelte »Die Zeit« ein Portrait Lenzens mit Bezug auf seinen umstrittenen Führungsstil.
Ein traditionsverliebter Kampf wird auf Humboldts Rücken ausgefochten. Dabei ist sein Mythos eigentlich viel jünger als man ihm nachsagt. Und damit fangen die Probleme auch schon an. Wer sich auf Humboldts Bildungsideal beruft und den guten alten Zeiten gedenkt, wo freie Studenten der 1810 gegründeten Berliner Universität noch ohne Leistungsdruck in hoffnungsvoller Erwartung auf ihre Ausbildung zum »ganzen Menschen« blicken konnten, bringt ein
paar Dinge gehörig durcheinander. Denn die als Kernstück der humboldtschen Universitätsidee bekannte Denkschrift »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«, aus der so eifrig zitiert wird, war im 19. Jahrhundert wenig präsent. Erst 1903 wurde sie vollständig publiziert als Humboldts Biograph Bruno Gebhardt die Schrift im Archiv entdeckte.
Mit der Berliner Universität hat sie also strenggenommen so viel gemeinsam wie der Bologna-Prozess mit einem Nudelgericht. Die Gralsburg wird zum Luftschloss, errichtet auf einem verstaubten, undatierten und unvollendeten
Dokument. Und trotzdem überstrahlt Humboldts Ruhm all die anderen zahlreichen neuhumanistischen Reformisten seiner Zeit wie Schleiermacher und Fichte, die die Forderung nach Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre auch im Programm hatten. Das gehörte damals quasi zur Standardphilosophie – Humboldt hin oder her.
Als Lichtgestalt der Bildungsstätten wird Humboldt mit seinem wohlklingenden Ideal jedoch schwer benötigt. Man kann die diffuse Sehnsucht nach etwas, das besser ist oder sein könnte als die heutige Bildungsrealität, gut verstehen. Multiple-Choice-Klausuren, Punktejagd, Zeitdruck, Geldnot, Gleichförmigkeit der Lehre. »Könnte Humboldt das sehen, er würde sich im Grabe umdrehen«, sagen viele Reformfrustrierte.
Doch an der Stelle, wo sich der Popstar unter den Bildungsministern demnach in Dauerrotation befindet, ist es erstaunlich still. In der schattigsten Ecke des Humboldt-Schlossparks in Tegel hat Wilhelm neben Alexander seine letzte Ruhe gefunden. Nur vereinzelt schlendern Touristen vorbei. Das mag an den Begrüßungsschildern der von Heinzens liegen, die als Humboldts Nachkommen heute im Schloss wohnen: »Privat«, »Eingang zum Park jederzeit widerruflich«, »Betreten auf eigene Gefahr«. Damit treffen die von Heinzens ins Schwarze: gut behütet und schwer zugänglich – so zeigt sich Humboldts Erbe. In der Nähe der Gräber wacht seit 400 Jahren eine dicker, hohler Baum. Eisenstangen halten den berstenden Stamm zusammen. Die »Wilhelm von Humboldt Eiche«, wie es heißt. Doch noch etwas Greifbares, das den Namen des ewigen kleinen Bruders trägt. Ein Baum für einen Pinguin.