Dem Hässlichkeitshype erlegen: Viele Studenten tragen etwas unsagbar Großes und Eckiges. Von Devid Mrusek
An der FU muss mit harten Bandagen kämpfen, wer aus der Masse herausstechen will. Dankbar greifen Studenten dafür obskure Ideen aus irgendwelchen Szenebezirken Berlins auf. Hornbrillen der fünfziger Jahre zum Beispiel, sei es auch in Wirklichkeit ein Kunststoffimitat. Die Modehersteller befeuern diese Entwicklung erwartungsgemäß: Der Absatz der Ray-Ban Wayfarer erlebte 2007 mit der Neuauflage der Brille einen märchenhaften Anstieg. 2010, Tatort Silberlaube: Jeder Zweite versteckt sein Gesicht hinter einem dunklen, robusten Plastikbrillengestell. Statt Individualität herrscht vollständige Austauschbarkeit. Wie konnte es zu so einem Trend-GAU kommen?
Zu Beginn war es ganz einfach: Intellektuelle wurden ob des vielen Lesens kurzsichtig, woraufhin sie sich eine geeignete Sehhilfe suchten. Runde und eckige Hornbrillen kamen in den zwanziger und dreißiger Jahren richtig in Mode. Plötzlich trug man Brillen mit Selbstbewusstsein: Das unansehliche Monstrum strahlte Funktionalität ohne jeden Schnickschnack aus. Ein Erkennungszeichen der verkopften Minderheitsgesellschaft war geboren.
Die minimalistische Modeentwicklung der Achtziger machte aber vor dem Intellektuellentum nicht Halt. Ihre Hoheitsinsignie, die Hornbrille, wurde einer strengen Diät unterzogen. Akademiker des öffentlichen Interesses gaben sich mit randlosen Brillen modern. Wer weiterhin durch viereckiges Horn schaute, war plötzlich ein Außenseiter. Eine Haltung, die von einigen Leuten trotzig bedient wurde. Man denke bloß an Woody Allen, Bill Gates und andere Ikonen der damaligen Intelligenzia.
In den letzten Jahren sind modische Alleinstellungsmerkmale enorm wichtig geworden. Der einstige Außenseiterstatus dieser Brille war also ein gefundenes Fressen für Individualisten. Sie wird heute als Requisit benutzt, das dem Träger nicht nur einen besonders eigenwilligen Geschmack attestiert, sondern ihm auch die Intelligenz der einstigen Zielgruppe auf den Nasenrücken transplantieren soll. Mit so einer Brille gewinnt man optisch locker 30 IQ-Punkte dazu. Mittlerweile werden Hornimitate durch unzählige Nachahmerprodukte – insbesondere mit Fensterglas – dermaßen inflationär zur Schau gestellt, dass sie ihre ursprünglichen Attribute verloren haben. Ihre Träger demonstrieren weder Individualität noch Klugheit, selbst die Funktion als Sehhilfe ist abhanden gekommen. Attraktiv sind diese Brillen damit eigentlich nur noch für neu zugezogene Studenten. Denn die halten das Hornbrillen-Imitat, neben Jutebeuteln und Polaroidkameras, nach wie vor für das vermeintliche Ticket in die Modeszene an der Spree.
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