Eingeschränkter Pazifismus

Die Einheit von Theorie und Praxis gehört zum Markenzeichen von linkem Aktivismus. Ist „Castor schottern“ nun Mittel für höhere Zwecke oder nur profane Straftat? Rebecca Ciesielski wollte es genauer wissen.

Als ich um zehn vor sechs den Seminarraum betrete, befinden sich gerade mal eine Handvoll Leute in den Zuhörerreihen. Den meisten merkt man an, dass sie bereits einen langen Unitag hinter sich haben. Von jedem sind jetzt nochmal zwei Stunden Aufmerksamkeit gefordert. Die gute Sache kennt keinen Feierabend, und darum hatte der SDS rechtzeitig vor den Castor-Transporten zur Podiumsdiskussion eingeladen. Mehr als zwei Dutzend Interessierte haben sich allerdings nicht eingefunden.

Die ewige Gewaltfrage

Als erster spricht Dieter Rucht, Bewegungsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Er referiert zur Geschichte der Anti-Atomkraftbewegungen und zum Begriff des zivilen Ungehorsams. Immer wieder blickt er seine Zuhörer eindringlich an, um seinen Thesen Gewicht zu geben. Nicht alle davon stoßen beim Publikum auf völlige Zustimmung. Widerstand kann unter bestimmten Bedingungen nicht ohne Gewalt auskommen, auch wenn diese gegen Staatsorgane oder das Eigentum anderer gerichtet sein sollte. Selbst sei er beileibe kein uneingeschränkter Pazifist. Gewalt gegen Polizisten rund um die Castor-Transporte halte er aber für unangebracht .

Der nächste Referent Jonas Rest, Energieaktivist und Autor für die SDS-Hauszeitung, attestiert der Bundesregierung eine erstaunliche energiepolitische Schizophrenie. Windräder stehen still, weil Kernkraftwerke keine ausreichende Flexibilität besitzen, um bei spontanem Strombedarfsabfall weniger Energie einzuspeisen. Außerdem gebe es eine „strukturellen Selektivität“ des Staats. Es werden genau jene Branchen gefördert, deren Profite hohe Steuereinnahmen versprechen. Ein eleganter Bogen zur Kapitalismuskritik. Glücklicherweise bleibt uns die Grundsatzdebatte erspart.

Tipps für den Nahkampf

Kerstin Wolter, Klima-Aktivistin vom SDS, übernimmt die Rolle der Expeditionsleiterin für den Protestzug ins Wendland. Routiniert erläutert sie die Anfahrt, die Schlafsituation in den großen Protestcamps und natürlich das „Schottern“ als zentrale Aktion. Sie klärt über mögliche Risiken auf („Bußgelderhebungen“) und warnt davor, während der Demos Kontaktlinsen zu tragen. Die Wirkung von Pfefferspray und Wasserwerferstrahlen würde dadurch eher noch verstärkt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich praktischer wäre, sich mit einer Brille dem Wasserwerfer in den Weg zu stellen. Aber mit dieser Frage scheine ich allein zu sein. Dafür interessiert das Publikum, ob die Polizei denn „zurückschottern“ könnte, wie groß die Kapazitäten der örtlichen Gefängnisse sind oder ob die Möglichkeit besteht, dass die Behörden örtliche Scheunen zu Großraumzellen umfunktionieren könnten. Offenbar greift auch bei Atomprotest die alte Fußballweisheit: bei aller Rederei, wichtig ist auf’m Platz.

Herausragende Aktivisten

Am U-Bahnhof komme ich noch einmal mit Prof. Rucht ins Gespräch. Ich erfahre wie er als Bewegungsforscher über Stuttgart 21 denkt. Wir reden über seine Mitgliedschaft in einer Stiftung, die „herausragende Aktivisten“ bei der Fördergeldbeschaffung unter die Arme greift und einen geplanten Dokumentarfilm: „Wir wollen die Leute zeigen, die ihr ganzes Leben auf die Bewegung ausrichten, die Leib und Leben für ihre Ideale riskieren.“ Wie der Franzose Sébastien Briat, der 2004 von einem Castor-Zug erfasst und getötet wurde.
Als ich in die U7 Richtung Kreuzberg steige, überlege ich kurz alle Verabredungen für dieses Wochenende abzusagen. Die Argumente des Professors haben ihre Wirkung bei mir hinterlassen. Außerdem habe ich schon seit langem in keiner Scheune mehr übernachtet.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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