Digitale Ewigkeit?

Ein Denkmal wurde errichtet. Nicht aus Bronze oder Stein, kein Bildhauer wurde beauftragt. Dennoch, was ein namenloser Student auf dem Campus der Freien Universität geschaffen hat, ist ein kultureller Meilenstein. Von Filip Tuma.

Die Entstehungsgeschichte dieser Großtat der Gegenwartskunst ist vom Werk nicht zu trennen, drum wollen wir sie kurz Revue passieren lassen: Zwei amerikanische Studenten entwickeln Algorithmen, welche die Datenmengen des Internets in einem digitalen Telefonbuch speichern, einem Telefonbuch von den Ausmaßen mehrerer Fabrikhallen. Einen Wimpernschlag später stehen sie an der Spitze des weltweit mächtigsten IT-Konzerns, begnügen sich jedoch nicht damit, sich angesichts dieses Erfolges ins Koma zu feiern. Sie erweitern das Geschäftsfeld: Ihr Telefonbuch soll nicht nur den digitalen Teil der Welt verzeichnen. Sie wollen mehr. Sie wollen die ganze Welt, die analoge Welt. Abertausende von Kameras und Bildabtastgeräten werden ausgesandt – in die Bibliotheken aller Länder, in den Weltraum, auf die Straßen aller Städte und auch auf den Campus unserer erhabenen Universität – mit dem einzigen Ziel: das Analoge zum Digitalen zu machen. Sie wollen die ganze Welt.

Doch die Welt will sie nicht. Gerichtsverfahren, Petitionen, Bürgerinitiativen, politische Interventionen. Die Verhältnisse sind außer Kraft gesetzt. Wem gehören Informationen? Wer darf von was ein Bild machen? Niemand erregt Verdacht, wenn er sich einen guten Platz in einem Café sichert, am nördlichen Ende der Piazza, von wo er einen besonders schönen Blick auf die Kirche hat, seinen Block und Bleistift aus der Tasche zieht und zu zeichnen beginnt. Es entsteht ein selektives Bildnis, das wohl nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen. Keiner schlägt diesem Menschen den Stift aus der Hand, um das lokale Kulturgut vor ungebetenen Blicken zu schützen. Eher noch fühlen sich die Anwohner geschmeichelt, ob der altmodischen Aufmerksamkeit, die ihrem Städtchen zukommt. Doch die Aufmerksamkeit der computergesteuerten 360°-Kameras hat eine neue Qualität. Sie überfressen sich wahllos und pressen ihre Daten in die anonymen Bildschirme dieser Welt. Aus der Anonymität des Anwohners wird die Anonymität des Voyeurs.

Aber gut: Nun kann sich der ambitionierte Zeichner die weite Reise sparen, sein Geld stattdessen in ein iPad investieren und sich per Google Streetview an dieselbe Piazza begeben. Oder er besucht den Campus der Freien Universität, Ihnestraße 21, Otto-Suhr-Institut. Gleich neben dem Kiosk, wo der Kaffee einen Euro kostet, auf der Bank, da sitzt er: Der neue Künstler. Mit der Geistesgegenwart und dem politischen Impetus, die man von einem OSI-Studenten erwarten darf, besetzt er diesen Moment. Mit einer kraftvollen Geste. 15 Millisekunden Ruhm. Oder digitale Ewigkeit?

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

1 Response

  1. 30. November 2010

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