Messias 2.0

Mehr als eine Million geheime Dokumente über Krieg und Frieden sind auf der Internetplattform Wikileaks zu finden. Ist die Veröffentlichung ein Mittel für eine basisdemokratische Revolution oder der Egotrip eines selbsternannten Weltverbesserers? Von Henrice Stöbesand.

Illustration: Cora-Mae Gregorschewski

Am Dienstagabend vergangener Woche diskutierten Amerika- Experten und Journalisten im Henry-Ford-Bau über Konsequenzen und mögliche Probleme der Veröffentlichungen der mittlerweile weltweit bekannten und oft heiß diskutierten Website.

„Mein Land ist nicht perfekt.“ Die Worte von US-Diplomat Mitchell Moss, dem Presseattaché US-otschaft, wirken geradezu leutselig. Er bitte um einen freundlicheren Umgang mit seinem Land, das sich nach seinen Worten „seit wenigstens 50 Jahren schon im Untergang befindet.“ Ende November hatte Wikileaks mehr als 250.000 zum Teil geheime Depeschen von US-Botschaften aus aller Welt veröffentlicht. Der Eklat war groß. Wikileaks gefährde die politische Ordnung, hieß es. Die Macher der Website wurden der Spionage bezichtigt, die Daten gingen um die ganze Welt. Die Vereinigten Staaten sind seither angeschlagen, bedürfen der Solidarität der demokratischen Welt mehr denn je.

Alte Expertenstrukturen durchbrechen

Die ehemalige Zeit-Redakteurin Constanze Stelzenmüller und Markus Kienscherf vom John-F.-Kennedy-Institut warnten vor einer vorschnellen Verurteilung der US-Politik. Immerhin seien die USA eine der liberalsten Nationen der Erde. Die harsche Kritik an den USA werde der Realität nicht gerecht.Vergleiche mit China oder Russland seien überzogen, so Kienscherf. Gerade weil die USA so transparent seien, werden ihre politische Fehler so offen diskutiert.

Stelzenmüller, derzeit Fellow am German Marshall Fund, bemühte sich den Wikileaks-Akten den Sensationsgehalt zu nehmen. Die Dokumente formulieren in erster Linie Zielvorgaben, nicht aber tatsächlich Geschehenes. Sie seien nur im Zusammenhang zu lesen. Und das würde den ungeübten Leser überfordern. Stelzenmüller weiter: „Es ist doch absurd, wenn beispielsweise Verhandlungen im Sicherheitsrat über Sanktionen öffentlich gemacht werden. Das ergibt keinen Sinn und ist kein demokratischer Zugewinn.“ Kienscherf hingegen befürwortet die Demokratisierung von Rohmaterial, da alte Expertenstrukturen durchbrochen werden. Allerdings sieht er ähnliche Gefahren bei einer ungefilterten und willkürlichen Veröffentlichung.

Verantwortungsloser Egomane

Auch wenn darüber trefflich zu streiten sein wird, der demokratischer Wert einer Veröffentlichung könnte Wikileaks in Zukunft als Eichmaß dienen. Ihrem Mitgründer Julian Assange reicht das nicht. Er strebt eine „Anarchie der Information“ an. Der weißhaarige Computerspezialist ist mittlerweile zu einer Madonna der Informationsfreiheit stilisiert worden: Er will absolute Transparenz über Regierungstätigkeiten schaffen.

Für Constanze Stelzenmüller ist Assange jedoch weder Held noch Revolutionär, sondern ein verantwortungsloser Egomane, in dessen Anarchiegedanken totalitaristische Züge zu erkennen seien. Der Personenkult um Assange sei kaum nachvollziehbar.

Formal ist das Vorgehen von Wikileaks durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Der Vorwurf der Spionage seitens der US-Regierung ist nicht haltbar, so Holger Starck Spiegel-Redakteur und Mitautor der Wikileaks-Geschichte. Für ihn sei die Plattform eine Zwitter-Institution, die ihre Rolle noch nicht gefunden habe. Wikileaks agiere zu einem gewissen Grade sicherlich auch journalistisch.

Der Reiz der Revolution

US-Diplomat Moss will einen Gesetzeskeil in die Machenschaften von Wikileaks schlagen. Diejenigen, die geheime Dokumente weitergereicht haben, müssten strafrechtlich verfolgt werden. Sie hätten sich eindeutig illegal verhalten. Ob sich mit solcherlei Drohung in Zukunft Menschen davon abhalten lassen, ihrem Gewissen zu folgen, ist ungewiss. Selten war mit ähnlich geringem Aufwand solche Wirkungen möglich. Der Reiz der Revolution mag für viele darin liegen, dass man den eigenen Schreibtisch dafür nicht verlassen muss.

Wie könnte nun eine erste Bilanz lauten? Ist Wikileaks der Ausweg aus einer nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit oder gefährlicher Unruhestifter. Der öffentliche Wert der Daten muss erst noch ermittelt werden und das revolutionäre Wesen von Wikileaks sich erst noch beweisen. Zumindest aber markiert der vermeintliche Skandal einen Umbruch in der Kommunikationsweise unseres politischen Systems. Möglicherweise mit einem Gewinn für die Demokratie.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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