Das Leben der Anderen

Integrationsdebatte trifft Wirklichkeit. Im Nightingale-Projekt begegnen FU-Studenten Kindern mit Migartionshintergrund. Anne Vanselow über einen unverkrampftes Miteinander.
Foto: Cora-Mae Gregorschewski
Foto: Cora-Mae Gregorschewski

„Ich möchte aus meinem Viertel rauskommen“, sagt Melike wie aus der Pistole geschossen. „Und du möchtest dein Deutsch verbessern“, schiebt ihre Mutter schnell nach. Melike das 11-jährige Mädchen mit den dunklen Locken nickt kurz, dann wendet sie sich wieder wichtigerem zu. Genauer gesagt ihrer Sitznachbarin Siska. Die ist 21 und Studentin.

Der Glaspavillon der Otto-Wels-Grundschule ist heute Begegnungsstätte. Schüler, Lehrer, Eltern und Studenten sitzen an diesem Nachmittag dicht gedrängt. Lebhaft geht es zu. Kinder Geschnatter, auf deutsch und türkisch, klirrende Kaffetassen und Stühlerücken. Ein Teil der anwesenden Frauen trägt Kopftuch – so wie Melikes Mutter. Für Siska unvorstellbar.
Die Studentin und die kleine Deutsch-Türkin verbindet auf den ersten Blick wenig. Dennoch werden sich die blonde Lehramtskandidatin und die quirlige Schülerin aus Kreuzberg in den kommenden sieben Monaten häufiger sehen. Einmal pro Woche. Genug Zeit also, um zusammen andere Ecken der Stadt zu entdecken, so wie Melike es sich wünscht. Und vielleicht noch ein bisschen mehr.

Die beiden nehmen an einem Projekt der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität und der Otto-Wels-Grundschule teil. Dem sogenannten „Nightingale-Projekt“. Idee ist es, Berliner Studenten und Kinder aus sozialen Brennpunkten zusammenzubringen, um so die jeweils andere Lebenswelt kennenzulernen. Gelebte Integration – während einige U-Bahnstationen entfernt im Regierungsviertel die Integrationsdebatte schon wieder versiegt.
Die meisten der Studenten, die an dem Projekt teilnehmen, studieren Pädagogik. Unfaire Startchancen, mangelnde Deutschkenntnisse und fehlgeschlagene Integration – sie wollen heute lernen, was ihnen morgen an deutschen Schulen blüht. In Berlin beträgt der Migrantenanteil an den Schulen über 50 Prozent, interkulturelle Kompetenzen sind da unabdingbar. „Viele, die bei uns Pädagogik studieren, haben bisher in ihrem Leben noch nicht viel Kontakt zu Migranten gehabt“, erzählt die Projektleiterin der FU, Professor Petra Wiehler, „Durch Nightingale bekommen sie einen Einblick in das Leben von Migrantenfamilien und lernen ihre Hintergründe kennen.“

Siska und Melike haben noch viel vor. Ninas Zeit als Mentor ist hingegen schon vorbei. Über ein Jahr ist es her, dass sie die 10-jährige Nalan zum ersten Mal getroffen hat: Sie hatte dunkle Haare, erinnert sich Nina. Nichts ungewöhnliches für ein Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund. Aber ihre blauen Augen, die fielen auf.
Nalan wohnt mit ihren Eltern und Geschwistern in der Nähe des Moritzplatzes – hier holt Nina das Mädchen an einem Sonntag im April ab. Es stürmt. Nina möchte Nalan ihre WG zeigen. Anschließend wollen die beiden gemeinsam kochen: Rotkohl mit Kartoffeln und Erdnuss-Soja-Soße. Zum Nachtisch vegane Kekse. In Ninas gelb gestrichener Küche schält Nalan eifrig Kartoffeln. Sie hat Spaß an der Arbeit. Voller Tatendrang hilft sie Nina den Teig zu kneten und wundert sich: „Ich wusste gar nicht, dass man ohne Milch backen kann“. Die Kekse schmecken ihr trotzdem – auch ohne Milch und Eier.

Nicht nur Nalan hat Spaß. “Man trifft sich regelmäßig mit einem kleinen Menschen, der eine teils so andere Weltansicht hat, einfach andere Bedürfnisse und Wünsche”, sagt die Studentin. “Da bekommt man selbst eine andere Perspektive und versteht vielleicht mehr, wieso Menschen so leben wie sie leben und so denken wie sie denken.“ In der selben Stadt aufgewachsen, prallen hier doch unterschiedliche Lebenswelten aufeinander. Ninas Einfluss ist begrenzt. „Ich dachte, es wäre leichter, Nalan davon zu überzeugen, zu Hause mal öfter andere Dinge zu tun, als fernzusehen“, sagt sie etwas desillusioniert. Umso mehr freut es sie, die Ergebnisse ihrer gemeinsamen Arbeit zu sehen – zum Beispiel beim Freundschaftsbänder-Flechten. Die Technik ist knifflig. Aber aufgeben? Das kommt für Nalan nicht in Frage. „So viel Konzentration ist nicht selbstverständlich bei einem Kind, das im Durchschnitt fünf Stunden fernschaut und kaum selber kreativ ist“, sagt Nina, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme. Die Freude ist groß bei der kleinen Deutsch-Türkin, als die Armbänder schließlich fertig sind und um ihre schmalen Handgelenke baumeln.

Foto: Cora-Mae Gregorschewski

Nalans und Melikes Eltern sind engagiert. So wie all die anderen Eltern, die sich in der Mensa der Otto-Wels-Grundschule versammelt haben. Die Integration ihrer Kinder ist ihnen wichtig. „Viele unserer Eltern sind sehr bemüht und sehen das Projekt als eine Art Fortsetzung der Förderung ihrer Kinder an”, erzählt Brunhilde Focke, Konrektorin der Grundschule. Aber nicht allen Kindern geht es so. Gerade die Schüler, die diese Unterstützung zu Hause nicht bekommen, erreicht das Projekt nicht.

Das ist die Kehrseite der Medaille. Aber daran denken Melike und Siska in diesem Moment nicht. Am Ende des Nachmittags schmieden die Kreuzberger Grundschülerin und die Dahlemer Studentin Pläne für ihr erstes gemeinsames Treffen: Ins Theater wollen sie gehen oder ins Kino – eigentlich ganz egal.

Das Nightingale-Projekt kommt ursprünglich aus Schweden. Es wurde 1997 von der Universität Malmö und verschiedenen Schulen ins Leben gerufen. Der Name hat Symbolcharakter, denn es heißt, die Nachtigall sänge am Schönsten, wenn er sich rundum sicher fühlt. Vor vier Jahren hat sich der Berliner Ableger mit dem Nameszusatz „Hand in Hand“ gegründet. Er erhält Fördermittel aus dem Europäischen Fond für Regionale Entwicklung und von der Berliner Senatsverwaltung. Die werden unter anderem genutzt, um den Teilnehmern die Kosten für ihre Ausflüge zu erstatten.

Bei Interesse meldet euch bei: alexandra.blankenburg@fu-berlin.de

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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  1. 25. Januar 2011

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