Weltberühmt in Hildesheim

Aus groß mach klein: Zwei Tage lang tauschte Marlene Göring die Massen-FU gegen den Mini-Campus Hildesheim und hat sich riesig amüsiert.

Illustration: Michi Schneider

Planmäßige Ankunft, 9:36 Uhr. Mit ICE-verschlafenen Augen schaue ich mich um: Bäcker, Bank und Busbahnhof sehe ich auf einen Blick. Das war einfach, jetzt kann es losgehen. Destination: Uni Hildesheim.

Erstmal fahre ich zu Josi, sie wird mich in das ansässige Studentenuniversum einführen. Munter und aufgeräumt öffnet sie mir die Tür zu ihrer 5er-WG. Josi kommt vom Planeten Goa: mehrere Lagen Strickklamotten in Regenbogenfarben, um den Hals eine Ethno-Kette, von denen ich noch 20 weitere zu Gesicht bekommen werde. „Die machen mein Leben bunter, das braucht man hier“, lacht sie.

Nach 6 Minuten im Bus erreichen wir den Campus. Ich blicke in offene, freundliche Gesichter, ein paar Leute grüßen mich sogar. Es ist nicht gerade ausgestorben, aber gemütlich. Niemand hetzt mit büchervollen Tüten vorbei, keiner bleibt plötzlich orientierungslos stehen. Etwas später sitzen wir mit 20 anderen in einem „ziemlich durchschnittlichen Seminar”, wie Josi sagt. „Schon, nur mit weniger Studenten“, denke ich. Auch die Diskussion nach den üblichen Frontal-Referaten ist irgendwie anders. Adam Smiths merkwürdige Thesen zu Moral und Kapitalismus hätten in jedem FU-Seminar einen mittleren Stellvertreterkrieg ausgelöst. Hier sind die ideologischen Einwände zaghaft.

Mittags bleibt der Run auf die Mensa aus. Nur die wenigen, die zwischen den Seminaren nicht zum Kochen nach Hause fahren, sind hier. Eine seltsam homogene Gruppe. Keine Polohemden-Träger, keine Punks. Einzelne Studienfächer kann ich nicht identifizieren, obwohl die Uni Hildesheim mit nur knapp 6000 Studenten eine Volluni ist. Wir machen ein Spiel daraus: „Lehramt!“, „Informatik!“, „Irgendwas mit Sprachvermittlung!“ – Josi erkennt jeden sofort. Und ich freue mich, dass die Mensa-Verkäuferin für meine Käsenudeln „unter keinen Umständen“ den Gästepreis berechnen will.

Auch wenn man den Campus mit einem Blick überschaut, kann man sich verlaufen. Die Architektur erinnert an Bauten im tiefen Osten Europas, ein Traum aus Futurismus und Zweckmäßigkeit der 60er-Jahre. Die Gebäude im Legobaukastensystem sind komplett unterkellert, Josi führt mich über Treppen und endlose Gänge. „Dort sind die Übungsräume und die Künstlerwerkstatt.“ Josi gerät ins Schwärmen. Von den vielen Festivals, Lesungen und Ausstellungen, die die Studenten veranstalten würden. Monotonie gibt es für sie nicht in Hildesheim, aus dem paradoxen Grund: „Man findet immer jemanden, dem auch langweilig ist.“ Dann trifft man sich zum Glühwein trinken, Plätzchen backen oder Risiko spielen. Gemeinsames Tatort schauen kennt sie noch nicht. „Hey, gute Idee!“, meint sie.

Toll findet Josi auch die Dozenten. „Wir gehen oft privat zusammen ins Café und duzen auch die meisten.“ Wenn mal ein Seminar ausgebucht ist, kommt man nach persönlicher Absprache trotzdem rein. Auch Fristen und Anerkennungen sind Verhandlungssache. Damit bestätigt Josi das „ausgezeichnete Betreuungsverhältnis“, mit dem die Uni auf ihrer Homepage wirbt. Nur die Bibliothek ist ihr zu klein. In drei Minuten hat man die Regale abgelaufen, auf denen ein Großteil der Bücher aller Fachbereiche steht. „Das meiste geht über Fernleihe.“ Josi verzieht den Mund: „Eine Hausarbeit kostet mich da schon mal 30-40 Euro.“

Abends geht Josi zur Vokü im Café Brühlchen in der Innenstadt. Wie jeden Donnerstag. Abgerissene Sofas, „Castor schottern!“-Poster an den Wänden und veganes Chili: alles sehr studentisch und irgendwie politisch. Dabei ist Hildesheim bei weitem keine typische Unistadt, sondern Deutschlands Hort der Alten. Neben Hochschülern wohnen hier hauptsächlich Menschen über 50. „In Berlin habe ich immer das Gefühl, die Stadt passt sich Dir an.“ Die 22-Jährige hat in der Metropole Verwandte und ist öfter mal dort. „Hier muss man sich der Stadt anpassen.“ Wenn man etwas erleben will, muss man das eben selbst organisieren. Vielleicht engagieren sich deshalb die meisten ihrer Kommilitonen, das StuPa tagt einmal die Woche. Gesprächsthema Nummer eins ist an diesem Abend aber nicht die Weltrevolution, sondern der Poetry Slam vom Vortag. „Habt ihr gehört?“, höre ich heute schon zum fünften Mal. „Es war so voll, die haben draußen an den Fenstern gestanden um was mitzubekommen!“ Ich verlasse die Runde in Richtung Kulturfabrik, dem Schauplatz der Slam-Sensation.

An der „Kufa“ treffe ich Juli. Die zierliche Schwarzhaarige mit dem aufmerksamen Gesichtsausdruck studiert seit diesem Semester Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. „Rauchst Du? Isst Du Fleisch?“ möchte sie als erstes wissen. Aufatmen auf allen Seiten: Wir mögen beides. In der Kufa ist Burgertag und ein ziemlich mittelmäßiger Singer-Songwriter behindert unser Gespräch. Nach und nach kommen noch andere Kreativ-Studenten an unseren Tisch, der der einzige besetzte bleibt. Auch hier dreht sich erstmal alles um den Poetry Slam. So viel los wie selten. „Als ich angekommen bin, dachte ich: Toll, und jetzt?“ Hildesheim ist für die Regensburgerin Juli keine Wahlheimat. Der Studiengang war entscheidend. „Am ersten Tag habe ich mich in ein Café gesetzt.“ Aus kajalumrandeten Augen wirft sie mir einen ironischen Blick zu: „Da war so eine Hausfrau in Trainingshose, die habe ich gefragt, was es denn Besonderes in der Stadt gibt.“ Die ernüchternde Antwort: „Dahinten reißen sie Häuser ab, da guck` ich immer.“

Ansonsten arrangiert man sich mit Hildesheim. Und schließlich habe ich ja Kreative vor mir, die sich notfalls selbst zum Event machen. Das Gespräch kommt immer wieder auf besonders eigenartige Exemplare unter ihnen. Den heiligen Klaus zum Beispiel. Flyer und Sticker mit ihm als Jesusfigur sind überall auf dem Campus verteilt – Selbstinszenierung als Seminaraufgabe. „Der ist jetzt weltberühmt! Weltberühmt in Hildesheim…“, schmunzelt Johanna.

Aber auch im gemütlichen Hildesheim ist nicht alles Ponyhof. Johanna und die anderen erzählen vom Dauerclinch am Fachbereich: “arrogante” Kreative gegen “müsliessende” Kulturwissenschaftler. Wenig Platz auf dem Campus, viel Raum für Klischees und Labels, mit denen man sich wahlweise identifiziert oder gegenseitig brandmarkt. Dass es an der Uni sogar Naturwissenschaftler gibt, halten die Anwesenden für ein Gerücht. Dafür bieten die Lehrämtler jede Menge Angriffsfläche und schießen ebenso zurück. Welche Ausmaße das annehmen kann, weiß Juli. Denn auch wenn man sonst unter sich bleibt, manche Seminare teilt man eben doch. „Wenn dann ein Lehrämtler einen Witz macht, lachen nur seine eigenen Kommilitonen.“ Und umgekehrt. „Bekackt“, findet auch Johanna.

Am nächsten Morgen fahre ich mit Juli zu „ihrem“ Campus. In den 15 Minuten Fahrtzeit lassen wir die Stadtgrenzen weit hinter uns. Durch eine Pappelallee laufen wir vorbei an winterlichen Wiesen. Vor uns sind die Umrisse eines alten Gutshofs im Nebel zu erkennen. „Normalerweise stehen hier auch Pferde“, nuschelt Juli zwischen Schal und Mütze. Ein Hauptgebäude, drei, vier kleine Ställe und Nebenhäuser, aus denen Sägegeräusche dringen – die Umgebung, in der Schöpferkraft geschult wird. Da sitzen sie, die Kreativen: auch hier keine Fashionvictims und Hardcore-Individualisten. Dafür blasse, müde und Kaffee schlürfende Menschen. Ich fühle mich heimisch.

In letzter Minute müssen wir den Raum wechseln. Die Vorlesung „Mediengeschichte“ hören wir jetzt im Blauen Salon, eine Art mittelalterliche Klause, die nur für etwa 10 Studenten Platz hat. Ein paar von uns setzen sich auf die Fensterbänke – Überfüllung auf Hildesheimerisch. Eine Studentin hat ihren Teller aus dem hofeigenen Café mitgebracht und zerkleinert langsam Kartoffeln mit Quark. „Schon nach ein paar Wochen kannte ich jeden in meinem Studiengang“, flüstert mir Juli zu. „Und die meisten anderen zumindest vom Sehen.“ Sie findet das eher langweilig als beschaulich. Ihren Master will sie in jedem Fall woanders machen.

14.15 Uhr: Ich nehme den Bus, der jetzt voller ist als der Campus. Nach und nach steigen immer mehr bepackte Studenten ein. Freitag ist der Tag der Heimfahrer. Auch meine Zeit in Hildesheim endet heute. Vorher werde ich aber noch kurz bei Josi in der WG vorbeischauen, auf einen Tee und eine Partie Risiko. Ist ja nur ein Katzensprung, in Hildesheim.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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