Der Weltversteher

Als Präsidentschaftskandidat gescheitert tritt Raúl Rojas den Marsch durch die Institutionen an. Nebenbei baut der Informatikprofessor das Taxi der Zukunft, bringt Robotern das Fußballspielen bei und philosophiert über Rousseau und Gandhi. Hendrik Pauli und Fanny Gruhl im Gespräch mit dem letzten Universalgelehrten der FU.

„Es ist einfacher einen Professor durch einen Roboter zu ersetzen als einen Busfahrer.“ Raúl Rojas und sein möglicher Nachfolger. Foto, Illustration: Cora-Mae-Gregorschewski.

Herr Professor Rojas, die Regierung von Mexiko-Stadt hat Ihnen zu Ehren einen Wissenschaftspreis ausgelobt, die Raúl-Rojas-González-Medaille. Sind Sie in ihrer Heimat so etwas wie ein wissenschaftlicher Nationalheld?

So habe ich das noch nie betrachtet. Meine Gruppe und ich sind schon sehr bekannt in Mexiko. Wenn wir mit den Fußballrobotern etwas gewinnen oder mit unserem autonomen Fahrzeug unterwegs sind, berichten die mexikanischen Medien gerne darüber. Meine früheren Studienkollegen freuen sich dann mit uns.

Sie sind 1986 nach Deutschland gekommen. Seit 1996 besitzen Sie die deutsche Staatsangehörigkeit. Wie deutsch sind sie eigentlich mittlerweile?

„Ich bin Hindu, Moslem, Christ, Buddhist, Jude.“ Das hat Gandhi immer auf die Frage nach seiner Religion geantwortet. Bei mir ist es ähnlich. Ich bin zuhause in Europa, in Mexiko, in Brasilien, in Russland, überall. Ich bin ein Citizen of the world, ein globaler Bürger.

Sie orientieren sich nicht nur an Gandhi, sondern auch an Rousseau. Sie beziehen sich vor allem auf seine Demokratietheorie.

Mich überzeugt die Idee eines Gesellschaftsvertrags. Dabei muss man die Rechte der Minderheiten beachten. Das ist etwas, was ich am politischen System in Deutschland sehr schätze. Aber ich weiß auch, dass Rousseau total verrückt war. Er hat über gute Erziehung geschrieben, aber die eigenen Kinder ins Internat geschickt.

Wer wäre denn Ihr Held?

Ich bin eigentlich gegen Helden. Aber ich sage meinen Studenten immer, sie sollten so sein wie Gandhi, im Sinne einer bescheidenen Lebensführung. Mahatma hatte nur sein Tuch, und das Tuch hat er selbst gewebt. Für Wissenschaftler sind Anstrengung und Bescheidenheit geboten – und viel Phantasie, um sich eine andere Welt vorstellen zu können – so wie Gandhi.

Dass Sie sich nicht festlegen lassen wollen, scheint auch für Ihre wissenschaftliche Vita zu gelten.

Die Leute, die wissen, dass ich am OSI studiert habe, wundern sich immer, wenn ich als Roboterexperte vorgestellt werde – und umgekehrt. In Mexiko habe ich Mathematik und Wirtschaft studiert. Letzteres nicht so sehr aus eigentlichem Interesse, sondern aus Verantwortung. Ich wollte die Gesellschaft verstehen, darum eine Sozialwissenschaft. Das war quasi meine Rebellion. Wenn man diese undemokratischen Zustände tagtäglich erlebt hat, mit einer Partei, die schon 60 Jahre an der Macht war, konnte man gar nicht anders. In Mexiko habe ich dann Elmar Altvater, der damals OSI-Professor war, kennengelernt. Er hat mir geholfen in Deutschland ein Stipendium zu bekommen. Hier habe ich dann eine Art Doppelleben geführt. In der Woche hab ich an der TU über künstliche Intelligenz geforscht. Am Wochenende habe ich dann mit Elmar meine Dissertation besprochen. Danach war ich einige Jahre bei der Fraunhofer-Gesellschaft, bevor ich dann an die FU zurückgekommen bin und in Informatik habilitiert habe.

Sie forschen über künstliche neuronale Netzwerke. Was genau fasziniert Sie daran?

Mich interessiert wie Prozesse im Gehirn ablaufen. Das versteht man am besten, wenn man versucht sie nachzubilden. Farbwahrnehmung kann ich zum Beispiel am besten verstehen, wenn ich meinen Robotern beibringe, was Rot, Gelb und Grün ist – mit allen Schattierungen. Eine andere kognitive Herausforderung ist das Autofahren. Das versuchen wir mit unserem autonomen Fahrzeug MadeInGermany zu simulieren. Ich bin nicht zufrieden, wenn das Auto bloß die Spur hält. Das klappt zwar schon, aber ich will irgendwann einfach einsteigen, die Augen schließen und nicht unterscheiden können zwischen Mensch und Computer, weil alles so sanft abläuft.

Wann können Sie mit Ihrem Auto gegen Sebastian Vettel antreten?

Sofort. Wenn wir Parkour und Auto perfekt kennen, fährt unser Computer besser als jeder Formel 1- Fahrer. Deswegen sind Computer in der Formel 1 verboten. Die Herausforderung ist, sich im normalen Stadtverkehr zu bewegen, Fußgänger zu erkennen, auf Gefahrensituationen zu reagieren. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Herbert Simon hat einmal gesagt: „Es ist einfacher einen Professor durch einen Computer zu ersetzen als einen Busfahrer.“ Der Professor hält sich an logische Regelketten, die ein Computer eigentlich schneller bearbeiten kann. Der Busfahrer muss viele verschiedenartige Sinneseindrücke gleichzeitig verarbeiten. Wenn der Bus voll ist, fährt er umsichtiger, und zwar intuitiv. Ein anderes Problem: Augenkontakt mit dem Fußgänger herzustellen, damit man weiß, dass er nicht im nächsten Moment auf die Straße laufen wird. Die Kunst ist, den Busfahrer zu schlagen, nicht Sebastian Vettel.

Was können Politiker von künstlicher Intelligenz lernen?

Ganz viel, vor allem für Städtebau oder Verkehrsplanung. Alle reden vom grünen Auto, aber nur davon, ob es einen Hybrid- oder Diesel-Motor hat und wieviel Benzin es verbrauchen darf. Das eigentliche Problem ist, dass der Individualverkehr nicht optimal mit dem öffentlichen Verkehr kombiniert wird. Entweder fahre ich U-Bahn oder Auto. Dann nehme ich in Kauf im Stau zu stehen. Das wäre nicht notwendig, wenn es nur autonome, intelligente Taxis gäbe, mit denen mehrere Leute bis zur U-Bahn fahren können, ähnlich wie Carsharing. Wir entwickeln das Taxi der Zukunft. Das ist das echte grüne Auto. In Japan wird seit längerem ein anderes Problem diskutiert: Es gibt immer mehr ältere Menschen. Wie kann man für die bedarfsgerechte, komfortable Wohnungen bauen? Wie können intelligente Geräte und Roboter im Alltag helfen? Was ich hier mache, ist noch ein bisschen Science-Fiction, nicht für nächste Woche, sondern für die ferne Zukunft. Aber die kommt manchmal schneller als man denkt.

Sie entwerfen mit Ihrer Forschung eine neue Welt. Wo sehen Sie sich mit Ängsten oder moralischen Bedenken konfrontiert?

Das größte Problem ist die Frage der militärischen Nutzung, wie bei allem in der Informatik. Wir entwickeln zum Beispiel ein System zur Objekterkennung, das ein Glas, einen Tisch, aber auch Gesichter erkennen kann. Das kann man leider auch in einer Waffe einsetzen, die automatisch Personen von Objekten trennt. Natürlich könnte ich mich aus diesen Forschungsbereichen heraushalten, aber dann würde ich nichts tun. Es gibt in der Informatik nichts, was nicht militärisch einsetzbar wäre. Das ist das moralische Dilemma der Wissenschaft. Wir müssen wachsam sein, so gut es geht.

Wir müssen nochmal über Ihre Präsidentschaftsbewerbung vom letzten Jahr reden. Sie haben vor der Kandidatur keine akademische Leitungsposition übernommen. Woher kam die Motivation, sich zu bewerben?

Das war pure Verzweiflung. In meinen Augen hat die Freie Universität immer mehr an Bedeutung verloren. Der Demokratieabbau war sehr weit fortgeschritten. Uns wurde aber immer nur erzählt, wie toll wir sind, fast wie in der Endphase der DDR: der Zusammenbruch stand kurz bevor, aber die Aktuelle Kamera hat weiterhin nur großartige Erfolge vermeldet. Ich dachte damals: So kann es nicht weiter gehen, also habe ich meine Kandidatur lanciert.

Wie ging es dann weiter?

Ich hatte gehofft, dass meine Bewerbung ernsthaft diskutiert würde. Aber ich wurde schon am Anfang schnell abgeschossen. Das Kuratorium hatte dem Akademischen Senat bereits Empfehlungen gegeben, zu denen ich nicht gehörte. Erst dann habe ich in einer Nacht- und Nebelaktion meine Wahlkampf-Webseite gestartet, um wenigstens meinen Standpunkt öffentlich zur Diskussion zu stellen. Daraufhin haben AS und Kuratorium mich doch zur offiziellen Anhörung eingeladen.

Trotzdem haben Sie nach der Anhörung noch am selben Tag Ihre Kandidatur zurückgezogen.

Ich hatte den starken Eindruck, dass alle Professorengruppen sich schon entschieden hatten und es keine offene Wahl geben würde. Ich wollte nicht per Zufall gewinnen, wie Jörg Steinbach an der TU, mit der Mehrheit von Mitarbeitern und Studenten, aber nur einer Stimme aus der Professorenschaft. Das wäre eine Horrorvorstellung für mich gewesen. Die FU wurde in der Öffentlichkeit seit Jahren immer wieder als Chaotenrepublik dargestellt. Ich wollte nicht, dass die Wahl in diesem Sinne hätte ausgeschlachtet werden können. Unter anderen Umständen, mit einer offenen Wahl und ohne den Druck der Bewerbung für die Exzellenzinitiative, hätte ich bis zum bitteren Ende kandidiert.

Dass Sie mit Ihrer Liste zu den AS-Wahlen angetreten sind, war also die logische Konsequenz aus der gescheiterten Präsidentschaftsbewerbung?

Mein Rückzug sollte nicht bedeuten, dass ich meine Ideen nicht weiterhin vertreten wollte. Darum haben wir wieder bei null angefangen und arbeiten nun darauf hin, dass sich die Mehrheitsverhältnisse ändern und dass Demokratie wieder eine größere Rolle spielt. Ich denke, dass mehr Demokratie letztendlich auch konsensfähig sein wird. Aber ich will es mir nicht leicht machen. Es ist ein bisschen wie der Marsch durch die Institutionen.

Haben Sie keine Angst zum Feierabendinformatiker werden, wenn Sie sich jetzt richtig im Akademischen Senat engagieren?

Nein, ich glaube nicht. Dazu habe ich zu viele Sachen, mit denen ich mich gerne beschäftige. Außerdem bin ich immer noch dabei herauszufinden, was der Akademische Senat überhaupt tut. Ein Parlament, das sich viermal in Semester trifft, wirkt nicht gerade wie ein sehr aktives Gremium. Ich lasse mich aber auch gerne vom Gegenteil überzeugen.

Teil 2 des Interviews: „Früher funktionierte es auch“

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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