„Früher funktionierte es auch“

Er ist der neue Taktgeber im Akademischen Senat: Raúl Rojas über Exzellenz-Propaganda, die kritische Masse der FU und einen präsidialen Menschenfischer – im zweiten Teil des Gesprächs mit Hendrik Pauli und Fanny Gruhl.

Paragraphen statt Algorithmen: Informatiker Rojas hat alles dabei, was man für eine AS-Sitzung braucht. Foto, Illustration: Cora-Mae Gregorschewski.

Herr Professor Rojas, Ihren Einzug in den Akademischen Senat kann man fast als historischen Einschnitt bezeichnen. Bekommt Ihre Familie in Mexiko mit, wie Sie die FU aufmischen?

Eigentlich nicht. Politisches Engagement war früher ein schwieriges Thema bei uns Zuhause. Als Student war ich in Mexiko politisch sehr aktiv. Das war unter der Herrschaft der Einheitspartei PRI nicht immer ungefährlich. Viele Studenten sind damals einfach verschwunden. Meine Mutter war in ständiger Sorge um mich. Seitdem rede ich mit ihr nicht mehr über Politik. Sie interessiert sich auch mehr für meine Roboter.

Wofür werden Sie sich in nächster Zeit im Akademischen Senat einsetzen?

Mein Eindruck bisher war, dass der Akademische Senat viel diskutiert aber seine Gestaltungskraft nicht nutzt. Das ändert sich hoffentlich. Wir werden unsere Themen nach und nach einbringen. In der letzten Sitzung waren wir mit unserem Antrag dem Herrscher von Dubai die FU-Ehrenmedaille abzuerkennen ja schon erfolgreich. Das musste sein. Die Verleihung war 2008 eine Nacht- und Nebelaktion der damaligen FU-Leitung. Niemandem war bewusst, in welche Geschäfte Scheich bin Raschid Al Maktum verstrickt war. Obwohl Googeln gereicht hätte.

Bis zuletzt gab es starke Widerstände gegen die Novellierung des Berliner Hochschulgesetzes. Schließen Sie sich der Kritik an?

Ja. In der Novelle ist vieles bis ins Letzte festlegt. Am liebsten würde ich das Gesetz auf eine einzige Seite komprimieren. Die Hochschulen sollten autonom sein und sich ihre Vorgaben und Ziele selbst setzen können. Eine Vereinfachung von heute auf morgen ist zwar illusorisch, aber meine Stoßrichtung ist klar: mehr Demokratie und größtmögliche Autonomie.

Stichwort Autonomie: Ist das nicht schon durch die Erprobungsklausel des Berliner Hochschulgesetzes gewährleistet? Damit sollten doch „neue Modelle der Leitung, Organisation und Finanzierung erprobt werden“.

Die Erprobungsklausel erlaubt es, von bis zu 72 Paragraphen des BerlHG abzuweichen. Die FU hat davon in ihrer Teilgrundordnung seit 1999 reichlich Gebrauch gemacht. Das hat in der Vergangenheit der Willkür Tür und Tor geöffnet. Darum brauchen wir endlich eine Grundordnung. Das ist die Verfassung der Universität. Die FU ist die einzige Berliner Uni, die keine richtige Verfassung hat. Wir werden deswegen in der kommenden AS-Sitzung beantragen, eine Kommission einzurichten, die eine Grundordnung erarbeitet.

Ist das keine bürokratische Rolle rückwärts?

Umgekehrt. Wichtige Dinge müssen einfach festgelegt werden. Freiheit will ich dort, wo es drauf ankommt: beim Forschen und Studieren. Als ich in Mexiko studiert habe, gab es im Prinzip nur eine Regel: Man musste eine bestimmten Anzahl von Kursen absolvieren. Die Reihenfolge war egal. Diese Freiheit gab es in Deutschland auch mal beim Diplom. Mit dem Bologna-Prozess gibt es sie leider immer weniger.

Die Berliner Unis waren Mitte der 90er Jahre einem massiven Spardruck unterworfen. Die Kapazitäten für so ein Studium waren einfach nicht mehr zu halten.

Das ist der falsche Ansatz. Die vorhandenen Kapazitäten reichen aus. Ich will bloß nicht ständig überlegen, in welcher Reihenfolge ich die Veranstaltungen besuchen muss. An echten Eliteunis wie Princeton kann ein Student gleich mit Physik III anfangen und Physik I und II auslassen, wenn er das möchte. Jeder bastelt sich sein eigenes Studium, geleitet von einem Mentor. Bei uns gibt Campus Management alles vor. Es verschwinden auch schon mal Vorlesungen aus dem System. Früher mit den Papierscheinen war alles weniger aufwendig und es funktionierte auch. Der Zwang, Studienabläufe immer strenger zu reglementieren, ist letztendlich kontraproduktiv.

Letztes Jahr als Präsidentschaftsbewerber haben Sie vorgeschlagen die FU mit der TU zu fusionieren. Ist das nicht ein Schritt zu mehr Zentralisierung?

Nein, es bedeutet Dezentralisierung. FU und TU hatte ich in Verbindung gebracht, weil die beiden komplementär sind. Niemand sollte Angst vor Personalabbau haben. Ich will Bürokratie abbauen und vorhandene Ressourcen möglichst vielen zugängig machen. Der schönste Tag für mich als Student war früher der, an dem das Vorlesungsverzeichnis rauskam. Am liebsten wäre ich zu allen Vorlesungen gegangen. Ich habe Mathematik studiert, aber auch Vorlesungen in der Physik, am Lateinamerika-Institut und am OSI besucht, sogar bei den Archäologen. Heute könnte man die Lehrangebote der großen drei Universitäten allen Berliner Studenten zur Verfügung stellen – in einem elektronischen Vorlesungsverzeichnis. Jeder könnte sich dann daraus seinen Stundenplan frei zusammenstellen. Ähnlich bei der Abschlussarbeit: Wenn mein Thema an einer anderen Uni besser repräsentiert ist, schreibe ich sie dort. Mit einem einfachen Antrag wäre das erledigt.

Bei Ihren Fusionsüberlegungen verwenden Sie gerne das Schlagwort „Kritische Masse“. Was meinen Sie damit?

Für viele Projekte gibt es eine Mindestgröße. Das OSI zum Beispiel ist so bekannt und wichtig geworden, weil es eine kritische Masse an Forschung und Lehre hatte. Es wurde in den letzten zwanzig Jahren zwar geschrumpft, aber was dort produziert wird, hat immer noch Auswirkungen in der wissenschaftlichen Gemeinde und darüber hinaus. Mit dem, was von der FU entfernt wurde, haben wir die kritische Masse für die interdisziplinäre Forschung verloren. Durch die Medizin bekam die FU viele Drittmittel und Forschungsanstöße. Das Herauslösen der Medizin hat der FU ein wichtiges Wirkungsfeld genommen. Viele Entwicklungen in den Lebenswissenschaften finden an Schnittstellen zwischen Medizin und Ingenieurwissenschaften statt. Die Genetik wurde an der FU fast komplett abgebaut. Gleiches gilt für die Umweltwissenschaften: die Verbindung zwischen Geologen, Meteorologen und Sozialwissenschaftlern könnte viel tiefgründiger sein.

Unterschätzen Sie nicht trotzdem die politische Logik einer Zusammenlegung? In Zeiten knapper Kassen geht es doch nicht nur um Synergien, sondern wird immer an der Substanz gespart.

Ich bin nicht so naiv zu denken, dass die Politiker nicht sofort ans Sparen denken. Aber so eine Fusion müsste eigentlich im Interesse der Politik sein. Wenn ich betrachte, welche Rolle die deutschen Universitäten im internationalen Vergleich spielen, kommen mir die Tränen. Die deutschen Universitäten fallen in den einschlägigen Rankings immer mehr zurück. Die FU Berlin befindet sich ab 2011 im Time-Ranking nicht mal unter den 200 besten Unis der Welt.

Warum sind die Rankings entscheidend?

Dass sie entscheidend sind, habe ich nicht behauptet. Aber in der Zeit des alten Präsidiums ist mir ständig die Propaganda begegnet, die FU sei beste Uni Deutschlands. Das wurde von keinem Ranking belegt. Ich will nur, dass wir alle auf den Boden der Realität zurückkommen. Es gibt natürlich Inseln der Exzellenz, aber in der Summe sind wir sind nicht die Besten. Wenn man sich alle Indikatoren anschaut, dann liegt die FU allenfalls im oberen Mittelfeld. Das ist in bisschen in Vergessenheit geraten, weil wir das Exzellenzsiegel bekommen haben.

Sie haben auf Ihrer Wahlkampfseite geschrieben: „Das wichtigste bleibt der persönliche Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden“. Gleichzeitig wollen Sie das E-learning ausbauen.

Für mich ist das kein Widerspruch. Das Wichtigste ist, dass man zusammensitzt, diskutiert, Ideen entwickelt. Ich bin ein großer Fan der Projektlehre. Da arbeiten zwanzig Studenten gemeinsam an einer Sache, und am Ende des Projektes gehen wir zum Beispiel, zur Fußballroboter-WM. Das ist eine viel intensivere Lernerfahrung, als wenn ich irgendwas an der Tafel erzähle. Ob meine Studenten in die Vorlesung kommen, ist mir eigentlich egal. Die Übungen, die praktische Arbeit, sind viel wichtiger. Aber gerade dort ist in den letzten Jahren viel abgebaut worden, weil man den Mittelbau zusammengeschrumpft hat. Auch Tutoren gibt es immer weniger, weil das Geld dafür fehlt. Die Hausaufgabeblätter brauchen bei uns teilweise nur noch freiwillig bearbeitet zu werden, weil keiner sie benoten kann. In der Mathematik ist das tödlich. E-Learning ist für mich eine Ergänzung.

Mit den Berliner Lehrdeputaten wollen Sie eine Art Tauschbörse für Dozenten einrichten. Was erhoffen Sie sich davon?

Wenn Sie die gleiche Vorlesung schon ein dutzendmal gehalten haben, dann schleppen Sie sich irgendwann regelrecht in den Hörsaal. In einer anderen Uni, in einer anderen Atmosphäre können Sie neue Motivation entwickeln. An der FU sind wir neun Informatik-Professoren, die TU hat 28. Ich würde meine Robotik-Vorlesung gerne an der TU anbieten. Im Gegenzug könnte ein Professor von der TU seine Vorlesung bei uns halten. So entstehen wünschenswerte Verbindungen zwischen verschiedenen Forschungsthemen. Für die Sozialwissenschaften gilt das Ganze unter umgekehrten Vorzeichen. Wir müssen die TU vor ihrer Techniker-Mentalität retten. Die TU war das Waffenlabor des Dritten Reiches. Nach dem zweiten Weltkrieg haben die Alliierten deswegen die Sozialwissenschaften an der TU eingeführt. Diese wurden aber durch Sparmaßnahmen weitgehend abgebaut. Ingenieure sollten sich immer mit die gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Erfindungen befassen. Dabei kann die FU helfen.

Seit Sie letztes Jahr gegen das FU-Establishment angetreten sind, sind Sie für viele Studierende ein Hoffnungsträger. Sehen Sie sich eigentlich als deren natürlicher Bündnispartner?

Ich möchte nicht, dass die neue linke Mehrheit verspielt wird. Diese Studenten-Professoren-Kategorien sind nicht meine Sache. Ich will alle Gruppen, überzeugen. Jetzt, wo die Verhältnisse im AS anders sind, sollte man nicht bloß Abstimmungen gewinnen, sondern – um es mit dem verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau zu sagen – um „Menschen werben“. Ich glaube, dass viele unserer Vorschläge, zum Beispiel zur Demokratisierung, konsensfähig sind. Ich möchte wirklich, dass wir uns alle weitgehend verständigen, auch wenn das vielleicht ein bisschen illusorisch klingt. Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass wir die FU in eine demokratische und gleichzeitig eine wissenschaftlich gute Universität verwandeln können, wäre ich gar nicht angetreten. Nur, das Ganze ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathonlauf, für den wir einen langen Atem brauchen.

Teil 1 des Interviews: Der Weltversteher

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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