Die Szene ist tot, es lebe die Szene

In ganz Deutschland glaubt man an ein Berlin, das es so nicht mehr gibt. Besonders für Erstsemester ist dies Quell großer Verwirrungen. Von Julian Niklas Pohl.

Eine erste Woche als Student an der Freien Universität ist ein Sprung ins kalte Wasser des Universitätsalltags. Bohrende Fragen wie „Was mache ich hier?“ und „Wer bin ich?“ und „Wie bloß funktioniert das alles?“ drohen einem die Luft aus den Lungen zu pressen. Ein Tauchgang in die Untiefen des Uniwissens.

Wer sich zudem stundenlang damit beschäftigt, wie er sich am besten inszenieren kann, für den ist das schlimmste Szenario wohl folgendes: ein gut gefüllter Seminarraum, der Dozent rollt eben den Semesterplan auf und die versammelten Dritt- und Fünftsemester sind innerlich noch nicht ganz aufgestanden, als plötzlich der modebewusste Neuling den Raum betritt.

Mit dem Selbstverständnis von monatelang aufgebautem Understatement streift er das lange Deckhaar seines Undercuts zurück, glotzt quer durch die massiven Gläser seiner Hornbrille in die Mitte des Raumes hinein. Seine Röhrenjeans verzerren sich gestresst als er sich niederlässt. Er platziert seinen Jutebeutel neben den Stuhl auf den Boden und pult aus dem Inneren seiner Lederjacke eine Flasche Club Mate hervor, stellt sie auf den Tisch, trinkt aber nicht. Der Hipster ist angekommen. Und jeder in diesem Raum weiß: da ist Jemand neu in Berlin.

Von Delmenhorst nach Kreuzberg

Wie jedes Jahr sind wieder Tausende Berlinfrischlinge in die Stadt gekommen, mit einem Bild von einer Szene, die gar nicht mehr existiert. Für den Hipster ein schweres Schicksal. War sein Hipsterdasein in Koblenz, Stuttgart oder Delmenhorst mit natürlicher Authentizität behaftet, so muss es in der Hauptstadt schon etwas mehr sein. Mit einer analogen Kamera im Anschlag durch Kreuzberg gewandelt zu sein, einen Fotoblog mit überbelichteten Bildern aus Göteborg zu betreiben und mit Sicherheit zu wissen, was der „Görli“ ist: So mag er überall das Alphatier der lokalen Jugendbewegung sein, doch in seiner neuen Heimat ist er eine Metastase der breiten Masse.

Berlin schreibt vor, was cool ist und der Rest von Deutschland folgt artig, doch um Jahre verzögert. Während Club Mate mehr und mehr zum Mainstream-Gesöff wird und es sich auf keiner ernst gemeinten illegalen Party in Schöneberg oder Friedrichshain mehr findet, fangen die ausgesuchtesten Clubs in Köln und Leipzig grade erst mit dem Verkauf an. Gilt „Alle Farben“ in Aachen und Bremen nur unter Kennern als die neuste Offenbarung der elektronischen Musik, so geht ein echter Berliner nicht mehr hin, wenn „Alle Farben“ auflegt. Zu touristisch. Nur Spanier und Israelis da. Und eben die aus der Provinz.

Die Ideologie des V-Auschnitts

So steht dann der eingeschüchterte Ersti mitten in einer großen fremden Stadt, und merkt nun, wie sein Bild der Berliner Szene innerhalb von wenigen Augenblicken zu Staub zerfällt. Kann er so weitermachen wie bisher? Stand er nicht noch vor wenigen Tagen in der Dorfdisko herum, mit seinem Second-hand-Strickpulli und dieser Aura von Großstadt und Gleichgültigkeit? Sagte nicht sein Interesse an Kunst und Design, sein Freundeskreis, der aus Selbstmachern und Querdenkern besteht, kurz sein gesamtes Creative potential so viel mehr über ihn aus, als die Kategorien, in denen die große breite Masse denkt? War nicht schon sein riesiger V-Ausschnitt und das regelmäßige Kiffen ein Verweis auf sein individuelles Weltbild?

„Illusionen und Selbstbetrug!“ schreit Berlin die Antwort. Das, was du dir in deinem heimischen Kämmerchen auf ewig gestrigen Modeblogs an Charaktermasse zusammengeklaut hast, pfeifen hier schon längst nicht mehr alle Spatzen von allen Dächern. Deine Szene gibt es nicht. Berlin wird dir immer um drei Schritte voraus sein. Es lebe die Szene.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

5 Responses

  1. Moses P sagt:

    großartig!

  2. charles manson sagt:

    ich glaub, ich zieh zurück nach h-town.

  3. Thomas E. sagt:

    Dass der Author meint, Berlins Studentenszene sei überhaupt mit einem Typ zu umschreiben, lässt vermuten, dass er ebenfalls kein Berliner ist. Berlin ist, Gott sei Dank, mehr als hip sein, und Berlin ist auch Mahlsdorf. Und manche trinken Club Mate auch einfach, weil’s ihnen schmeckt.

  4. Jakob Grimm sagt:

    ausdem Handbuch für Schülerzeitungen teil 1:
    Korrekturlesen und später veröffentlichen…dann fallen vielleicht die diversen unvollständigen Sätze und die abenteuerlichen Konstruktionen auch jemandem auf?

    und inhaltlich – illegale Partys in Friedrichshain? 1995 oder wann? und PARTYS in Schöneberg? Träum wieter Julian

  5. FH sagt:

    Netter Artikel. Allerdings wird mir darin nicht klar genug gesagt, was denn das Problem ist. Das Streben nach Coolness ist so ungefähr das uncoolste, was ein mensch machen kann.

    Der Artikel hier klingt so, als ob der arme Ersti einfach nur 3 Schritte aufholen muss um sich wieder genauso hip und cool zu fühlen.

    Bullshit

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