Ich sehe was, was du nicht sehen willst

Schönheit ist primär ein visueller Begriff. Doch wie begegnet man ihm ohne sehen zu können? Zwei blinde Studentinnen berichten über ihre persönlichen Wahrnehmungen von Schönheit. Julian Niklas Pohl hat sich mit ihnen unterhalten.

Blinde Studentin Foto
Aufnahme einer blinden Fotografin: Katrin Dinges versucht mit ihren Fotos zu zeigen, dass sie die Welt hauptsächlich haptisch wahrnimmt.

Katrin Dinges ist blind. Trotzdem sagt sie einen Satz wie »Litauen ist ein schönes Land!« Für einen Außenstehenden verblüffend: Katrin, die an der Humboldt Universität Deutsche Literatur und Europäische Ethnologie studiert, hat Litauen ja nie gesehen. Was ist an fremden Orten für blinde Menschen schön? In Katrins Fall Dinge, die wohl auch Sehende ansprechend finden: die leckere baltische Küche beispielsweise, oder das historische Ambiente der Hauptstadt Vilnius.

Doch das muss nicht immer so sein, wie die ebenfalls blinde Studentin Joyce Tedeschi zu erzählen weiß. Joyce ist 23 Jahre alt und studiert Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut (OSI). Viele Situationen, die Sehende überwältigend finden, bedeuten für sie Stress. Wenn Sehende etwa zum ersten Mal durch die Häuserschluchten von New York gehen, mag der sprichwörtliche erste Blick dafür sorgen, dass sie sich sofort in die Stadt vergucken. Joyce verbindet mit solchen Reisen hauptsächlich rempelnde Passanten, Gestank und laut tosenden Straßenverkehr. »Atmosphäre kann man nicht sehen«, sagt sie. »Die muss man spüren.« Ihr gefallen deshalb Kleinstädte, die heimelige Gemütlichkeit ausstrahlen, besser – für Sehende ein Ort der Langeweile. Dass der Durchschnittsstudent das OSI zum Gotterbarmen hässlich findet, kann Joyce nicht nachvollziehen. Sie fühlt sich einfach wohl dort. Ein schöner Ort.

Im Gegensatz zu Katrin hat Joyce einen entscheidenden Vorteil: Bis zu ihrem elften Lebensjahr konnte sie uneingeschränkt sehen. »Ich habe deshalb eine sehr definierte Vorstellung von dem, was ich schön finde. Das fängt bei Farben an und hört bei Formen auf«, sagt sie. Der Welt der Sehenden fühlt sie sich sehr nahe, weil sie aufgrund ihrer Erinnerung einschätzen kann, was sie schön findet und was nicht. Bei der Beschreibung nicht-visueller Dinge hingegen hilft ihr das Wort »schön« nicht viel weiter.

Ganz anders geht es Katrin, die seit ihrer Geburt blind ist. Sie nimmt nur unmessbar geringe Mengen Licht wahr. Für eine ähnlich differenzierte Schönheitsbeurteilung, wie Joyce sie kennt, reicht das bei Weitem nicht aus. Trotzdem hat Katrin ein erstaunliches Hobby: Fotografie.
Seit sie bei einem Projekt für Sehbehinderte und Blinde verschiedene analoge Fotografiertechniken gelernt hat, nimmt sie regelmäßig Bilder auf. Immer wieder unternimmt sie dazu Touren durch Berlin. Wie schön die Ergebnisse sind, kann sie nicht bewerten: »Ein Foto ist für meine Wahrnehmung nur ein Stück Papier, da kann ich nichts mit verbinden.« Doch wenn sie ihr beschrieben werden, halten ihre Fotos Überraschungen bereit: An einem Sonntagmorgen hat Katrin einmal versucht, die Stimmung des »menschenleeren« Alexanderplatzes einzufangen. Später erfährt sie, dass das nicht ganz geklappt hat: Irgendwie ist es ihr gelungen, die einzige anwesende Person auf dem sonst verwaisten Platz aufzunehmen.

Das Fotografieren macht Katrin Spaß. Doch gerade am Anfang riss es bei ihr alte Wunden auf: »Zunächst hatte ich Schwierigkeiten damit, zu akzeptieren, dass ich wirklich gar nichts sehe«, sagt sie. »Das war mir natürlich abstrakt klar, aber nicht mit den Konsequenzen, die es für meine Fotos hat. Das hat in mir eine neue Auseinandersetzung mit dem Nicht-Sehen ausgelöst.« Bei der Beurteilung ihrer Bilder fehlt ihr eine eigene Meinung über den ästhetischen Wert ihres Werkes. Ob also das Ergebnis ihres Schaffens letztendlich schön ist, vermag Katrin nicht eigenständig zu beantworten: »Wenn jemand sagt, dass ich ein schönes Bild gemacht habe, bin ich schon stolz. Aber ich empfinde das Foto nicht unbedingt als mein Werk. Denn der angelegte Maßstab, ob das Bild nun schön ist oder nicht, stammt nicht von mir.« Eine Dimension des Schönheitsverständnisses von Blinden ist offenbar Fremdbestimmung. Lobt man sie für die Bilder, die an den Wänden ihrer Wohnung hängen, entgegnet sie forsch: »Die kommen alle weg. Die haben meine Eltern für mich ausgesucht!«

Kann »blinde« Wahrnehmung von Schönheit auch von Vorteil sein? Politikstudentin Joyce würde das bejahen. Sie glaubt, dass sie Fremden unvoreingenommener begegnet als ihre sehenden Freunde. Hier ist ihr Mangel an visuellen Eindrücken hilfreich, weil sie Personen, die sie kennenlernt, nicht aufgrund ihres Äußeren kategorisiert. »Ich sehe eine Art von Schönheit, die den Augen verborgen ist«, erklärt sie. »Ich sehe etwas, was andere nicht sehen wollen.« Bei Begegnungen mit Menschen könne sie auf ganz andere Formen von Schönheit achten, sagt sie. »Schon oft habe ich mich mit Leuten unterhalten und festgestellt, dass sie eine unglaubliche gedankliche Schönheit haben, in ihrer Art Dinge wahrzunehmen und von Dingen zu erzählen.«

Katrin nimmt Schönheit bei anderen Menschen zunächst haptisch wahr. »Wenn mir jemand die Hand gibt, bekomme ich natürlich mit, ob jemand eine schwabblige Fetthand hat oder eine schlanke, zierliche Hand«, sagt sie. Das erlaubt ihr dann Rückschlüsse auf den Körper der Person. Für ein detailliertes Urteil reiche das natürlich nicht. Für mehr müsse sie die Person besser kennenlernen.

Abgesehen von diesen speziellen Merkmalen, an denen Joyce und Katrin Schönheit erkennen, spielt in ihrem Leben aber auch äußerliche Schönheit eine Rolle. Genauer gesagt der persönliche Kleidungsstil. Joyce ist auffällig unauffällig gekleidet. Ihr würde niemand anmerken, dass sie selbst gar nicht sehen kann, was sie morgens anzieht. Auch das führt sie auf ihre visuellen Erinnerungen zurück: »Ich kann mich sehr bewusst kleiden, weil ich mich daran erinnern kann, wie ich aussehe. Ich weiß, wie der Ton meiner Haare und meiner Haut ist. Und ich weiß, dass mir so ziemlich alles steht außer Gelb.«

Katrin musste ihren persönlichen Geschmack im Rahmen einer Farbberatung erst entwickeln: »Ich habe mich mit dem Fühlen von Farben beschäftigt. Es klingt etwas esoterisch, aber im Prinzip wird davon ausgegangen, dass es bestimmte Kraftzentren in jedem Körper gibt, denen sich Farben zuordnen lassen.« Durch intensiven Kontakt mit farbigen Tüchern erlebte Katrin, welche Farben zu ihr passen. So hat sie ein ganz normales Modebewusstsein erfühlt – ohne wirklich zu wissen, wie Grün oder Pink eigentlich aussehen.

Was also ist Schönheit für Blinde? Die universellste Antwort formuliert Katrin, als sie die Schönheit ihrer liebsten Erinnerungen und Gefühle auf einen Nenner zu bringen versucht: »Schöne Momente sind für mich sehr gegenwärtig. Augenblicke, in denen man völlig aufgeht. Es muss nicht darüber nachgedacht werden, was noch getan oder gemacht werden muss, was zu bedenken oder zu berücksichtigen ist, was man für angebliche Sorgen hat oder was gerade unsicher ist. Schön ist es, wenn man all das für eine gewisse Zeit einfach hinter sich lässt.«

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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