Im Wohnzimmer der Vertriebenen

Tillmann Brehmer ist 23 Jahre alt und studiert an der FU Arabistik. Ein halbes Jahr hat er seinen Studenten-Alltag gegen ein Flüchtlingslager im Libanon getauscht, um Kinder für eine palästinensische NGO zu betreuen. In FURIOS berichtet er von seinen Erfahrungen. Festgehalten von Christopher Hirsch

Kinder in ‘Beit Atfal Assumoud’-Uniform Foto: Tillmann Brehmer

Morgens halb acht in Beirut. Der Taxifahrer guckt mich ungläubig an: Wo will ich hin – nach Sabra und Schatila? Ich als Europäer? Nicht lieber nach Downtown Beirut, zu den Restaurants, Hotels und Petromillionären? Nein, bestätige ich, nach Sabra und Schatila, in das palästinensische Flüchtlingslager. In das Lager, in dem 1982 bei einem Massaker zwischen 460 und 3300 Menschen ums Leben kamen – je nachdem, ob man die libanesische Polizei oder die Palästinenser fragt.
Der Taxifahrer dreht sich nach vorn und startet den Wagen. Wir fahren durch Beirut, wo schwerbewaffnete Sicherheitskräfte an den Bürgerkrieg erinnern und halbzerstörte Gebäude von israelischen Bombardements zeugen. Das schiitische Viertel im Süden der Stadt geht fließend in das palästinensische Flüchtlingslager über. Kein Zaun, kein Tor, keine Kontrolle. Aber auch, wenn die Grenze nicht sichtbar ist: Sie ist da. Sie trennt die besonders Armen vom Rest der Bevölkerung. Auch das Taxi stoppt vor ihr und ich muss das Camp zu Fuß betreten. Der erste Anblick des Flüchtlingslagers ist beeindruckend. Graue unverputzte Türme, wie Stapel kleinerer Blöcke, die sich gegenseitig zu halten scheinen. Zusammen ergeben sie einen gescheckten, mit kleinen Fenstern und Vorsprüngen gespickten Monolith. Dunkle enge Gassen durchziehen das Gebilde. Wirre Kabelknäuel hängen zwischen den Häusern. Dieses Viertel wurde nicht geplant, es ist gewachsen. Es beherbergt mittlerweile ungefähr 15.000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Mit einem provisorischen Lager hat das nichts zu tun. Das Provisorium dieser Menschen ist aus Stein gebaut, ihr Status undefiniert – und das seit mehr als 60 Jahren.

Tillmann Brehmer bei seiner Arbeit im Kindergarten. Foto: Tillmann Brehmer

Schnell stehe ich vor dem Gebäude von ›Beit Atfal Assumoud‹, der NGO, für die ich arbeite. Sie kümmert sich unter anderem um die Kinder aus dem Lager. Mit Hilfe internationaler Spenden und Freiwilligen aus dem Camp betreuen hier 14 angestellte Palästinenserinnen drei Klassen mit jeweils über 30 Kindern.

Im Erdgeschoss begrüßen mich die beiden älteren Putzfrauen, während sie Tee trinken und plaudern. Die Mütter, die gerade ihre Kinder abgeben, reagieren reservierter auf mich. Für sie ist es ungewohnt, dass ich mich um ihren Nachwuchs kümmere, anstatt wie ihre Männer auf dem Bau zu arbeiten.
Ich betreue die Vierjährigen. Als ich das Klassenzimmer betrete, füllt schon Kinderlärm den kleinen Raum. Die Kleinen tragen wie ich Jacke und Mütze. Bei 5 Grad Außentemperatur und fehlender Heizung kränkeln viele von ihnen.
Fast alle palästinensischen Kinder aus dem Lager besuchen einen Kindergarten. Die Betreuung ist zwar kostenpflichtig, wird in Härtefällen aber auch gesponsert. Mona ist die Erzieherin meiner Klasse. Wie die meisten Angestellten ist sie nicht speziell ausgebildet, sondern hat mit 18 direkt angefangen in der Einrichtung zu arbeiten.
Der Unterricht beginnt. Mona fragt die Kinder nach ihrem Befinden. »Gott sei gedankt«, antworten die Vierjährigen im Chor. Diese Phrase ist Teil eines ganzen Repertoires zuweilen religiöser Formeln, die den Kindern schon früh beigebracht werden. Es gibt ihrer Sprache eine Erhabenheit, die angesichts ihres Alters auf einen Europäer eigenartig wirkt. Auch ansonsten sind die palästinensischen Kinder auffallend gut erzogen. Sie begrüßen mich mit drei Küssen auf die Wangen, stellen mich auf der Straße ihren Eltern vor und laden mich in ihre Häuser ein.

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Dass sie in einem politischen Brennpunkt aufwachsen, merkt man ihnen kaum an. Zwar werden sie im Bewusstsein erzogen, Vertriebene zu sein, aber ihren Alltag dominieren diese Themen nicht. Vielmehr erzählen die Kleinen stolz von ihren Familien, oder von ihren Verwandten in »Almania«.

Auch Mona hat beide Eltern im Libanonkrieg verloren. Doch statt des Konflikts steht Hocharabisch auf dem Stundenplan. Das Thema heute: Straßenverkehr. Ich setze mich zu den Kindern, denn da gibt es auch für mich als Arabistikstudenten noch etwas zu lernen.
Der Kindergarten dauert bis 13 Uhr. Danach arbeite ich in einer Art Hort und helfe Neunjährigen bei ihren Hausaufgaben. Das Arbeitspensum und der Anspruch sind enorm. Da mein Arabisch für dieses Niveau nicht ausreicht, versuche ich vor allem bei Mathe und Englisch zu helfen. Aber auch hier sind die Anforderungen zu hoch. Die englischen Übungstexte werden weder von den Kindern noch von den Lehrern verstanden; Frustration statt Lernerfolg. Ohnehin verlässt ein Großteil der Kinder schon mit 15 oder 16 die Schule, um Geld zu verdienen, was für die Jungen meistens Arbeit auf Beiruts Baustellen bedeutet.
Um 16 Uhr habe ich Feierabend. Den verbringe ich bei befreundeten Familien im Camp. Gastfreundschaft wird im Lager hoch gehalten, genauso wie im restlichen Libanon. Wenn ich wollte, könnte ich den ganzen Tag von Haus zu Haus gehen, um mich bewirten zu lassen. Das Lager ist für viele wie ein großes Wohnzimmer. Jeder kennt jeden. Und so stoßen über den Abend noch viele Nachbarn zu unseren Zusammenkünften dazu.
Doch so entspannt die abendlichen Treffen sind, so normal das Leben im Lager wirkt: Diese Familien sehen ihr Zuhause noch immer im Gebiet des heutigen Israel, Palästina. Ich höre Sätze wie »Till, das hier ist nicht unsere richtige Heimat, du solltest mal unsere Dörfer sehen« – auch wenn sie selbst noch nie da waren. Nach sechs Monaten verabschiede ich mich von meinen Gastgebern in dem Wissen, dass auch die unbekümmerten Kinder von ›Beit Atfal Assumoud‹ in einer Atmosphäre des Konflikts aufwachsen werden. Die Palästinenser von Sabra und Schatila können sich mit dem Status quo arrangieren. Aber ihren Frieden finden können sie nicht: Ein 18-jähriger Palästinenser sagte einmal zu mir, sein Lebenstraum sei es, von einem israelischen Soldaten erschossen zu werden.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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