Schmökerzeit Teil I — Geschichten vom ganz normalen Wahnsinn in Neukölln

Startschuss für unsere Literaturserie „Schmökerzeit“! Lev Gordon präsentiert ein Buch, das seinen eigenen täglichen Lebensraum einmal genauer unter die Lupe nimmt: Neukölln und seine Bewohner.

Wir schreiben das Jahr 1985. Neu in der Hauptstadt angekommen, zieht es Uli Hannemann in den Süden Berlins – lange bevor Neukölln zum hippen Szenebezirk mutierte. Als angehender Taxifahrer und Taugenichts ist für ihn an dem Bezirk vor allem eins attraktiv: die spottbillige Miete.

Dafür muss er, um überhaupt in seine Wohnung am Hermannplatz zu kommen, eine Strickleiter hochklettern. Außerdem sind die Gehwege mit Pitbullkot gepflastert und er ist täglich von rastlosen, in Selbstgepräche vertieften Wahnsinnigen umgeben. Trotzdem ist Uli Hannemann geblieben, bis heute. Wieso, wird beim Lesen der Kurzgeschichten sofort klar: Langeweile kommt hier definitiv nicht auf.

Mit viel Witz, etwas Bösartigkeit, aber auch einer bemerkenswerten Beobachtungsgabe schildert Hannemann den Alltag in Neukölln zwischen den sehr eigensinnigen Einwohnern des Viertels. So erzählt er von dem Eismann, der täglich seinen Putzlappen über dem Schlumpfeis auswringt – aus Rache an den Kindern, die sich so gar nicht auf eine Eissorte festlegen können.

Er porträtiert die Arbeitslosen in der Hasenschänke, die Schläger und Drogendealer. Auch von Tante Emma erzählt er, die als Onkel Mehmet ihre strahlende Wiedergeburt in Form sogenannter „Backshops“ erlebt. Dort, schwärmt Hannemann, kann man wirklich alles kaufen. „Gerade als Anwohner“ schreibt er, „schätzt man den Luxus, nie weiter als einhundert Meter laufen zu müssen, ob für Druckerpatronen, Pizza, Farbeimer oder Sex.“

Dass Neukölln im restlichen Deutschland als Synonym für Drogen, Hartz IV und die Rütli-Schule gilt, weiß Hannemann gut zu parodieren. In einem Kapitel über das neue Konzept der ehemaligen Problemschule berichtet er satirisch von der jungen Schülerin und Burkaträgerin Fatima. „Fatima ist nicht nur vom Schwimm- und Sexualkundeunterricht befreit, sondern von allen Fächern, bei denen geguckt und gesprochen werden muss.“

Immerhin fresse das Mädel in der Schulkantine „wie ein Scheunendrescher, ganz unglaublich. Da das Gewand ohne Schlitze gearbeitet sei, hätten böse Zungen einmal behauptet, darin stecke gar kein Kind, sondern ein Tanzbär, der in dieser Verkleidung vor seinen Peinigern aus Bulgarien geflohen sei.“

Mit „Neulich in Neukölln“ ist Uli Hannemann eine gelungene Verschmelzung gelungen. Auf der einen Seite ist das Buch eine völlig überzeichnete, tragikomische Erzählung aus der Talsohle des Lebens. Auf der anderen Seite stellt sich das Buch als überraschend lebensnahe Milieustudie heraus. Diejenigen, die den Rummel um den Bezirk für völlig überbewertet halten, sollten also besser die Finger von dem Buch lassen. Für Neukölln-Fans ist das Werk absolut empfehlenswert!

Neulich in Neukölln — Notizen von der Talsohle des Lebens
Auto­r: Uli Hannemann

Ver­lag: Ull­stein
Preis: 8,99 Euro

Alle weiteren Teile der Literaturserie „Schmökerzeit“ gibt es hier.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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