Der Übergang zwischen Tresen und Hörsaal scheint in den Geisteswissenschaften fließend zu sein. Er zieht sich quer durch die Vorlesungen des ersten Semesters, wie Christopher Hirsch beobachtet hat.
Jeder hat wahrscheinlich schon einmal in einer Kneipe über Literatur diskutiert. Kernphysik hingegen dürfte wohl eher ein selteneres Gesprächsthema am Tresen sein. Grund hierfür ist die vermeintliche Profanität des ersten Themas und die Wissenschaftlichkeit des zweiten.
Auch ich schätze das bisweilen etwas hochtrabende Gespräch über das zuletzt gelesene Buch bei einem Bier. Wo ich Profanität und hochtrabendes Gerede nicht schätze? Im Hörsaal – denn hier gibt es kein Bier. Dass darauf oft keine Rücksicht genommen wird, musste ich im ersten Semester erfahren.
Ehrfurchtsvoll und in voller Erwartung des Wissens, das die Professoren mit mir teilen würden, betrat ich meine ersten Vorlesungen, nur um festzustellen, dass ich mit meiner Ehrfurcht weitgehend allein war. Meine Kommilitonen und Kommilitoninnen sprudelten munter drauf los, sodass der Redeanteil der Lehrkräfte auf ein Maß zurückging, das ich in Einführungsvorlesungen nicht für möglich gehalten hätte. Eine Erfahrung, die sich laut der neuen Erstsemester wiederholt.
An dieser Stelle könnte es etwas hässlich werden. Will ich sagen, meine Kommilitonen seien Dummschwätzer? Dann würde ich diesen Artikel anonym schreiben. Nein, es sind die Dozenten, die ich hier in die Pflicht nehmen möchte. Umfragerunden mit dem Kommentar „Ich sammel’ mal“ in Vorlesungen durchzuführen, um am Ende alle Bemerkungen unkommentiert zu lassen, das ist nicht meine Vorstellung von Wissenschaft.
Denn tatsächlich heißt es Geistes-„Wissenschaft“. Nur weil in Literaturseminaren nicht gerechnet wird, heißt das nicht, dass eine Antwort nicht auch falsch sein kann. Dem latenten Minderwertigkeitskomplex der Geisteswissenschaften begegnen Lehrkräfte nicht, indem sie sarkastisch bemerken, dass sich Wissenschaftlichkeit durch komplizierte Formulierung erreichen lässt. Wer so etwas sagt, nimmt sich selbst nicht ernst – und das ist für einen Erstsemester zum Teil schwer zu schlucken.
Sicher, das klassische Lehrer-Schüler Verhältnis ist altmodisch und im Studium geht es ums Fragen und nicht ums Wissen. Aber bleiben wir ehrlich: Ganz ohne Wissen geht es auch nicht. Bemerkenswert ist auch, dass besonders in meinem ersten Semester die studentische Redseligkeit groß und die Moderation der Dozenten eher zurückhaltend war. Ein Verhältnis, das sich in meinen folgenden Semestern zunehmend umkehrte – sollte es nicht eigentlich anders herum sein?
Also, liebe Lehrkräfte! Die Vorlesung hat auch im ersten Semester durchaus ihre Existenzberechtigung. Wenn Sie bereits im frühen Stadium Ihre Studenten mit einbeziehen möchten, dann nehmen Sie das Fach und die Studenten ernst! Kommentieren Sie, was sie sagen, und denken Sie daran: Auch ein Nein kann mitunter sehr erfrischend sein. Und Ihr, liebe Erstis der Geisteswissenschaften, Ihr seid Wissenschaftler genau wie die Mathematiker — also lasst die Tresenthesen in der Kneipe.