Surfen auf der Stresswelle

Florian Schmidt erlebt seinen Alltag wie einen Rausch. Termindruck, Stress und Hektik gefallen ihm. Jedoch fragt er sich, ob es nicht auch anders geht. Ein Selbstversuch.

Termine, Termine, Termine: Stress kann erschlagend sein - aber auf beflügelnd. Foto: Christopher Hirsch

Termine, Termine, Termine: Stress kann erschlagend sein - aber auch berauschend. Foto: Christopher Hirsch

Mittwochabend: Party in Neukölln. Vorher schnell noch ein Sixpack Bier besorgen. Spätestens um 1 Uhr nach Hause, sechs Stunden Schlaf tanken. Donnerstagmorgen: Statistik-Vorlesung, vorher die Hausaufgaben ausdrucken – nach der Veranstaltung ist Abgabe. Dann mit der Lerngruppe in die Bibliothek, die Aufgaben für das Tutorium durchgehen. Zwischendurch Freunde in der Mensa treffen. Kurzer Smalltalk über die neuesten Neuigkeiten.

Am Nachmittag: Arbeiten in Kreuzberg, auf dem Weg dorthin gerade Zeit für zwei kleine Zeitungsartikel. Danach nach Hause. Abendbrot im Stehen. Handy-Vibrieren, eine neue SMS: „Bleibt es bei unserer Verabredung zum Fitness in einer halben Stunde?“ Ja, es bleibt dabei. Nach anderthalb Stunden wieder heim. Duschen. Vor dem Schlafengehen noch das wöchentliche Skype-Date mit dem Kumpel in Amerika. Gleichzeitig das Skript für Freitag ausdrucken. Nach einer halben Stunde auflegen. Dann Licht aus.

Tage wie diese sind für mich keine Seltenheit. Ich erlebe sie häufig. Von außen betrachtet Stress pur. Mir selbst aber kommt es nicht so vor. Dann, wenn die Flutwelle der Termine eigentlich über meinem Kopf zusammenbrechen müsste, fühle ich mich nicht am Ende – im Gegenteil. Ich fühle mich gut. Es gefällt mir viel vorzuhaben. Es gefällt mir, beschäftigt durchs Leben zu eilen. Das, was eigentlich Stress sein müsste, erlebe ich oft nicht als solchen. Vielmehr kommt es mir vor, als lebte ich in einem Rausch.

Die Psychologie nennt dieses Phänomen „Flow-Effekt“. Es ist das Gefühl, das Leben voll unter Kontrolle zu haben, trotz größter Herausforderungen. Der Eindruck alles laufe nach Plan, der perfekte Fluss, der Rausch. Wie bei einem Surfer, der auf einer Welle reitet, die nie zu brechen scheint.

„Das Schlimmste wäre, nur herumzusitzen“

Ich laufe über den Campus zur Mensa. Eine Freundin kommt mir entgegengeeilt. Wir bleiben kurz stehen und unterhalten uns. „Ich muss heute noch so viel machen“, setzt sie an. Es folgt eine Terminkalenderübersicht. Und die ist lang. Die ersten Uni-Wochen habe sie verpasst, weil sie ein Praktikum absolviert hat. Oft habe sie länger als acht Stunden gearbeitet, abends wartete eine ungeschriebene Hausarbeit auf sie. Zwar sei die jetzt fertig, nun aber müsse sie reichlich Stoff nachholen. „Das ist momentan echt etwas viel“, seufzt sie leicht gespielt. Ausgebrannt wirkt sie nicht. Schnell schiebt sie hinterher: „Aber das schaffe ich schon.“

Vielen meiner Kommilitonen geht es so wie mir. Einer engagiert sich bei den Jusos, treibt Sport, geht arbeiten und seit Kurzem trainiert er eine Kinderfußballmannschaft. Er ist ständig unterwegs und meint: „Das Schlimmste wäre für mich, nur herumzusitzen. Und solange alles klappt, was ich mir für den Tag vornehme, macht es Spaß viel beschäftigt zu sein.“

Das ist der Knackpunkt: Solange es klappt, lebt es sich im Flow wie in einem Rausch. Läuft etwas schief, kann dieser schnell zum Horrortrip werden.

Hans-Werner Rückert sitzt entspannt in einem Sessel in seinem Büro in der Brümmerstraße. Am Fenster steht sein Schreibtisch samt Laptop, ein Regal voller Bücher türmt sich hinter ihm auf. Als Leiter der psychologischen Studienberatung an der FU kennt Rückert viele Leidensgeschichten. Zu ihm kommen regelmäßig Studenten, die mit Stress kämpfen. Seit der Einführung von Bachelor und Master gebe es immer mehr, die ihren „Rausch“ nicht genießen könnten, sondern von ihm aus der Bahn geworfen würden. „Der Druck, der auf Studenten lastet, ist hoch“, sagt er. „Durch die gewachsenen Leistungsanforderungen und den höheren Zeitdruck, den viele verspüren, wird das Studium für einige schnell zu viel.“

Viele Studenten beklagen ständigen Zeitdruck

Ein ähnliches Bild zeichnet eine Befragung von Bachelorstudenten an der FU, die der Fachbereich Erziehungswissenschaft regelmäßig durchführt. Etwa drei Viertel von ihnen beklagen, dass sie in ihrem Studium unter ständigem Zeitdruck stehen. Rund 60 Prozent fühlen sich sehr großer Belastung durch das Studium ausgesetzt – und fast ein Drittel aller Befragten bezweifeln, dass sie ihr Studium mit Erfolg abschließen werden. Den Rausch des Lebens nehmen diese Studenten nicht wahr. Eher gleicht ihr Leben dem Kater nach dem Rausch; mit Symptomen von Schlaflosigkeit bis zum Burn-Out.

Ich erzähle Rückert, dass ich mich von diesem weit entfernt sehe. Ich erkläre ihm, dass ich Stress oft gut finde, dass es mir bisweilen Spaß macht, von Termin zu Termin zu hetzen. „Na ja, wenn Sie so denken, sitzen Sie komplett dem neoliberalen Gesellschaftsbild auf“, sagt er.

Dieses suggeriert, dass das Leben als Projekt betrachtet und bestmöglich gemanagt werden muss. Der Aufbau der perfekten Karriereleiter, das Abarbeiten möglichst vieler Termine und der damit verbundene Stress – all das ist aus dieser Perspektive etwas Normales, wenn nicht gar Erstrebenswertes. Rückert meint: „Von einer anderen Weltsicht her betrachtet, kann einem das verrückt erscheinen.“

Ist es das? Verrückt? Bin ich seltsam, weil ich Stress als etwas Berauschendes empfinde? Habe ich es verlernt, entspannt durch den Alltag zu gehen?

Geht es auch in einem langsamen Tempo?

Ein Selbstversuch: Mal sehen, wie es sich mit einem langsameren Tempo lebt. Wieder ist es Mittwochabend. Dieses Mal bin ich mit Freunden in einer Bar verabredet, bei mir um die Ecke. Obwohl der Donnerstagmorgen genauso mit Verpflichtungen überladen ist wie vergangene Woche, werden aus einem Glas schnell zwei, dann drei. Am Ende weiß ich es nicht mehr so genau. Als ich nach Hause komme, ist es halb zwei. Müde falle ich ins Bett.

Der Wecker klingelt. Ich stehe auf und mache mich auf den Weg zur Uni. Die Lerngruppe nach der Vorlesung lasse ich sausen. Den Stoff kann ich auch am Wochenende nachholen. Lieber gehe ich in Ruhe mit meinen Freunden in der Mensa essen. Anstatt oberflächlich zu quatschen, unterhalten wir uns lange und ausgiebig. Es geht auch anders, denke ich mir.

Als ich zur Arbeit fahre, wähle ich einen längeren Weg mit weniger Umsteigen. Ich komme deutlich entspannter an, weniger gehetzt. Nach der Arbeit fahre ich heim und lese ein Buch. Das letzte Mal schaue ich gegen zehn auf die Uhr. Dann lege ich mich ins Bett. Ist doch gar nicht so schlecht, mehr Zeit zu haben. Die Entdeckung der Langsamkeit.

Im Kopf nörgelt das schlechte Gewissen

Diese verordnen auch in der Arbeitswelt immer mehr Firmen ihren Mitarbeitern. Etwa bei Seminaren sollen schon junge Angestellte lernen, wie sie das Hamsterrad der Arbeit für eine gewisse Zeit verlassen, wie sie abschalten können. Hans-Werner Rückert zufolge falle das aber nicht jedem leicht. Viele Mitarbeiter glauben, in ihrer Position kaum ersetzbar zu sein. Schnell drängt sich diesen Leuten ein schlechtes Gewissen auf, wenn sie einmal fehlen.

Dieses Gewissen nörgelt auch in meinem Kopf. Ich habe meinen Kumpel beim Skypen sitzen lassen, ich war nicht beim Sport, den Stoff für das Tutorium muss ich nacharbeiten. Ich vermisse das Tempo. Irgendwie gefällt es mir doch besser, mir viel für den Tag vorzunehmen – und es dann auch zu bewältigen.

Am nächsten Morgen wache ich auf und habe fast elf Stunden geschlafen. Eine Tasse Tee, schnelles Frühstück und ein Blick in den Terminkalender. Viel zu tun. Endlich wieder Stress. Der Entzug vom Rausch, er hat lange genug gedauert.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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