Immer wieder nimmt Hollywood sich einen Literaturklassiker zur Brust, um ihn in einen Blockbuster zu verwandeln – zuletzt Tolstois „Anna Karenina“. Mara Bierbach hinterfragt diese Tradition.
Alle Jahre wieder versuchen Filmstudios, uns alte literarische Stoffe in neuer Verpackung als spektakuläre, noch nie dagewesene Kinoereignisse zu verkaufen. Im Sommer kommt man kaum an Comicbuchverfilmungen vorbei. Wer in der kälteren Jahreszeit ins Kino geht, der wird vor allem schwere, historische Stoffe zur Auswahl haben – nicht zuletzt, da viele potentielle Kritikerlieblinge kurz vor den Golden Globes und Oscars im Januar und Februar ihr Schaulaufen veranstalten.
Den Auftakt der weihnachtlichen Prunkschinken macht in diesem Jahr „Anna Karenina“. Der Brite Joe Wright, vor allem durch seine Verfilmungen von „Abbitte“ und „Stolz und Vorurteil“ bekannt, versucht sich am Klassiker von Leo Tolstoi. Die Geschichte – angesiedelt im Russland des späten 19. Jahrhunderts – ist weltbekannt: Anna Karenina, Dame der Gesellschaft, bricht aus ihrer Ehe mit dem angesehenen, aber spröden Minister Alexej Karenin aus. Die Affäre mit einem jungen Offizier bedeutet für Anna nie gekanntes Glück, bringt ihr aber gesellschaftliche Ächtung und stürzt sie letztendlich ins Verderben.
Wenig Inhalt, viel Prunk
„Anna Karenina“ ist bereits ein dutzend Mal auf die Leinwand gebracht worden. Wright scheint nicht den Anspruch zu haben, die eine, umfassende Verfilmung des Stoffes zu schaffen. Stattdessen hat er eine ganz eigene, reduzierte und doch opulente Version umgesetzt. Ein Großteil des Films ist in einem kleinen Theater gedreht worden. Nicht nur die Bühne wird genutzt – der Zuschauerraum wird zum Ballsaal, das Gebälk über der Bühne zur Straße und in einer Szene öffnet sich sogar ein Schiebedach, um Feuerwerkskörper in den Nachthimmel zu lassen. Die Ballszenen sind so aufwendig choreografiert, dass man sich oft an Musicals erinnert fühlt.
Auf nur zwei Stunden schrumpft Wright die tausendseitige Vorlage – anhand ausgewählter Schlüsselszenen aus dem Roman verfolgt der Film skizzenhaft die Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen. Um die epische Breite, um die Vielzahl kleinerer Figuren und Ereignisse, um eine realistische Darstellung des damaligen Russland bemüht sich der Film erst gar nicht. Für Tolstois feine Zwischentöne bleibt bei all der Stilisierung wenig Raum.
Umsetzung gescheitert
So ist Wrights „Anna Karenina“ in doppeltem Sinne – als Film und als die durch Keira Kneightley in opulenter Kostümierung dargestellte Hauptfigur – zwar wunderschön anzusehen, wird der Romanvorlage aber nicht gerecht.
Die Verfilmung eines literarischen Werkes kann auf zweierlei Art scheitern: sie kann zu wenig wagen oder zuviel. Filmemacher können sich zu sehr an die Vorlage klammern, und so einen trockenen, impulslosen Film abliefern. Sie können aber auch die eigene Vision überschätzen, und so das Original unnötig verzerren und trivialisieren.
Wright und Drehbuchautor Tom Stoppard benutzen Tolstois Roman, um schöne Bilder mit mehr aufzuladen, als ihr Skript hergibt. Man ahnt um die Komplexität, die hinter den Figuren und ihren Beziehungen steckt – aber sie speist sich nicht aus dem Film, sondern aus dem Wissen, dass es sich hier um die Verfilmung eines tausendseitigen Werks der Weltliteratur handelt.
Es hat eine gewisse Ironie, dass eines der berühmtesten Werke des Realismus ganz und gar nicht realitätsnah umgesetzt wurde – man möchte es fast anmaßend nennen.