Ein Blick hinter die Mauer

Die Berlinische Galerie hat vier Monate lang künstlerische Fotografie aus Ostdeutschland gezeigt. Ronja Seifert und Martha Tiedemann haben einen Blick hinter die Mauer geworfen und schauen nun zurück.

Eine der realistisch-nüchternen Aufnahmen von Christian Borchert: die Berliner Familie W. im Jahr 1983. Foto: SLUB / Deutsche Fotothek Dresden / Berlinische Galerie

Warum ist die DDR hauptsächlich durch blasse Mustertapeten, FDJ-Uniformen, Hornbrillen und Sportverbände in unser historisches Gedächtnis eingegangen? In der Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft“ hat die Berlinische Galerie von Oktober 2012 bis Ende Januar 2013 versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden – um gleichzeitig den Horizont der DDR-Eindrücke zu erweitern.

„Geschlossene Gesellschaft“ zeigte ganz unterschiedliche Werke von 34 Künstlern, die in der nicht immer künstlerfreundlichen DDR mit dem Medium Fotografie gearbeitet haben. Darunter waren auch bekannte Berliner Gesichter wie Sven Marquardt, Sibylle Bergemann und Christian Borchert.

Wer die Ausstellungsräume betrat, schaute einer der Künstlerinnen gleich ins Gesicht. Beinahe erschütternd eindringlich war der Blick, den die Selbstportraits von Helga Paris heraufbeschwörten: Ein fremdes Gesicht starrte nüchtern in den Raum. Auf den ersten Blick hätte es auch ein vergrößertes Passbild sein können, doch es verriet bis in die feinsten Fältchen viel über die Erfahrungswelt der Gezeigten.

Ungewohnte Perspektiven und keine Ostalgie

Die Bilder anderer Fotografen wollten ebenfalls mit vorgefertigten Sichtweisen und Ostalgie nichts zu tun haben. Jens Rötzsch etwa lenkte zwar den Blick auf parteiorganisierte Feierlichkeiten – jedoch so schonungslos, dass man fast lachen musste.

Da lud ein Jubiläumskuchen auf einem Papierkranz dazu ein, in die verschränkten Marzipanhände der Sozialistischen Einheitspartei zu beißen, und die „Parade der Arbeiterkampftruppen“ wirkte wie ein gelangweilter Trupp Schnauzbärtiger, denen man den Blaumann mit rosa Nelken und Schießgewehr garniert hat.

Christian Borcherts Familienporträts wirkten nur auf den ersten Blick wie ein klassisches DDR-Klischee, in dem Schutzpolizist und Montiererin mit den drei Kindern zwischen Karussell und Sammelgläsern eigenartig geradeaus in die Kamera sehen. Doch die dokumentarisch anmutenden Porträts zeigten vielfältige Lebensentwürfe, sodass klar wurde: hinter der standardisierten Einbauwand geht es noch viel weiter.

Denn in der Ausstellung ging es nicht nur um Gesellschaftsdokumentation, sondern um das Vermitteln menschlicher Erfahrungen. Manchmal waren die Bilder seltsam schön und kindlich vertraut: Über den Stuhl geworfene Socken und eine Milchflasche im Fenster. Manchmal zeigten sie schlichte körperliche Nähe: Klare Augen, gerade nackte Rücken, aufeinander stoßende Zähne und Zungen, Finger, Frauenkörper und ein Fuß, der sich auf zerkratztem Parkett streckt.

Ein Labyrinth voller Schlachthausszenen

Ebenso eindringlich – fast bis zur Unerträglichkeit – war die Installation „Schlachthaus Berlin“ von Jörg Knoefel. Im Gang durch ein Labyrinth sich überkopfhoch wölbender, fleckig silberner Metallplatten wurde der Besucher mit Schlachthausszenen konfrontiert. Zuerst waren es nur vereinzelte schwarz-weiße Momentaufnahmen der Arbeiter; dann kam man näher ans Geschehen, sah Gummihandschuhe Schweinefüße festhalten, sah Messer und sah Blutspritzer auf Hals und Wangen eines Jungen, dem kaum ein Bart wächst.

Immer mehr Bilder wurden es: eine Flut, in der man mitunter Angst hatte, um die nächste Ecke zu gehen. Das Ende lag im Kern des Labyrinths, und es gab keinen schnellen Ausgang, nur denselben verwinkelten Weg noch einmal zurück.

All das war so erstaunlich zeitbezogen und aktuell, dass klar wurde: Diese Ausstellung hat eine geschlossene Gesellschaft gezeigt, die nur von Ferne als „eins“ wahrgenommen wird, eigentlich aber aus einem Wust unterschiedlichster Gedanken und Ideen besteht.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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