Schnee von morgen

Geht das Studium seinem Ende entgegen, ist Schluss mit dem Aufschieben. Zukunft wird gemacht und machen heißt entscheiden. Was das bedeutet, kommentiert Robert Ullrich in zwei Bildern.


Es ist soweit. Was vorher nur abstrakt war, wird nun konkret: Das Ende des Studiums ist absehbar, die letzten Monate an der Uni beginnen – und danach? Fortsetzen auf der bisherigen Spur oder Neuorientierung? Das Psychologiestudium bringt nicht notwendig die Psychologin hervor, Biologie nicht Biologen. Das Ende bietet Gelegenheit zum Aufbruch, Umbruch, Ausbruch. Wer diesen Weg wählt, muss mit allem rechnen – oder auch gar nicht. Denn was willst du berechnen, wenn die Variablen deines Lebens unbekannt sind?

Es ist zu bezweifeln, dass der Dirigent Gustav Kuhn gerechnet hat. Neulich las ich einen Artikel über ihn und das neu eröffnete Festspielhaus in Erl, Tirol. Hätte ich nicht gemacht, wäre ich nicht von dem Foto des durchweg schön designten Gebäudes angezogen worden. Ihr wisst, was ich meine, wenn ihr eine Suchmaschine bemüht. Ich las also und stellte fest, dass Kuhn vorlebt, was mir am Ende meines Studiums bisher diffus und wenig greifbar vorschwebt: loslassen und neustarten.

Kuhn bespielte in den 80er-Jahren recht erfolgreich diverse Konzerthäuser, doch dann brach er aus. Wollte nicht länger in den, aus seiner Sicht, verkrusteten Strukturen des Kulturbetriebs mitmischen. In einem Interview erteilte er dem damaligen Chef der Bonner Oper eine symbolische Ohrfeige, bezeichnete seine Arbeit als „Opernkäse“. Folglich flog er aus dem Kultursystem; flog – und flog – und flog – und landete in den Tiroler Bergen im 1500-Seelen-Dorf Erl. Kuhn dirigierte weiter – vor kleinerem Publikum, in dem eines Tages der Chef des Bauunternehmens Stabag saß. Völlig begeistert von der Darbietung fragte dieser den Dirigenten, was er für ihn tun könne. Kuhns Antwort: ein eigenes Konzerthaus. Nach 20 Monaten Bauzeit war es fertig. Errichtet auf einer Wiese im Neuschnee. Die Veranstaltungen sind auf Monate hinaus ausverkauft, Gustav Kuhn so etwas wie ein Held.

Die Wiese im Neuschnee. Vorletzte Woche stand ich auch vor einer und dachte: Manchmal musst du dich nicht halb, sondern vollständig Abkehren. Musst eine alte Idee dem Sterben überlassen, um wirklich neu zu beginnen. Das Problem dabei: Im Moment der Abkehr ist nie so richtig klar, wohin die Reise gehen wird. Gustav Kuhn kann heute mit stolzer Brust von seinem rotzigen Interview berichten, das ihm den Job kostete und verbannte. Heute kann er das! Im Rückblick. Im Rückblick lässt sich aus allem eine Geschichte schreiben, daher der Name: „Geschichtsschreibung“.

Ich blickte auf das, was mal Wiese war und bemerkte: Neuschnee verdeckt vorgetrampelte Wege und löscht die eigenen Fußstapfen aus früheren Tagen. Mein Studium neigt sich dem Ende zu und alles Bisherige leuchtet anders im Licht des noch Kommenden. Es leuchtet vom Schnee her und die unberührte Oberfläche lockt, ihn zu betreten und Ungewissheit zu atmen. Produziert einen Moment des Kontrollverlustes, der ins Schweben reißt und fliegen lässt. Kuhn landete in Erl. Meine Flugbahn ist noch zu kurz, um die Landung abzuschätzen – unter mir nur Winter und Weiß.

Träume gibt es viele. Seltener bleibt der Versuch der Realisierung. Denn der ist oft verbunden mit der Abkehr vom Bekannten und dem Drohbild des Scheiterns beim Verlassen des Pfades. Erst im Rückblick wird sich zeigen, ob die Entscheidung vormals überlegt oder kopflos war. Üben lässt sich das nicht. Es ist eine Uraufführung.

In dem Zeitungsstapel mit der Konzerthausparabel fand ich übrigens auch ein schönes Berliner Sprichwort, was ich mir daraufhin als Leitmotiv für 2013 gesetzt habe. Es ist ein optimistisches:

„Am Ende wird allet jut und wennet noch nich jut is, dann isset noch nich dit Ende.“

Wohl wahr. Neuschnee, ich komme.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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1 Response

  1. Dasicheineschneeflockewär sagt:

    Da jibbet reichlich Neuschnee 🙂 :

    http://www.ulrikeottinger.com/index.php/unter-schnee.html

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