Im Zentrum des Grimms

Der Krieg aller gegen alle: Im Grimm-Zentrum der HU balgt man sich um Plätze. Lily Martin berichtet von ihren ersten Schlachterfahrungen.

Illustration: Cora-Mae Gregorschewski

Nachdem ich mich mit verquollenen Augen aus dem Bett gequält habe, sitze ich stolz in der S-Bahn. Ich fahre ins Grimm-Zentrum. Zum Lernen! An einem Samstagmorgen! Draußen nieselt es. Perfektes Lernwetter, denke ich. Doch ohne es zu wissen, begebe ich mich in meine erste Schlacht.

Es sieht aus, als gäbe es etwas umsonst. Hunderte Menschen stehen in einem großen Knäuel vor den Türen der Bibliothek. Im Regen!

Ist heute ein besonderer Tag? Kommt Armatya Sen und liest ein paar Zeilen aus seinem Buch? Rennt Matthias Schweighöfer wieder in Unterwäsche durch die Stadt? Ich begreife: Diese Leute sind alle früh aufgestanden, um zu lernen, Hausarbeiten zu schreiben, sich schlau zu fühlen. Genau wie ich.

Mit der vergehenden Zeit steigt die Aufregung. Als der Pförtner um kurz vor zehn die Türen öffnet, finde ich mich in kriegsähnlichen Zuständen wieder. Panisch drücken sich die jungen Leute durch die drei kleinen Türen der Bibliothek. Sie rennen zu den zweiten Eingangstüren, die die Lesesäle vom Eingangsbereich trennen und schmeißen ihre Jacken und Taschen davor, um sich ihren ganz persönlichen Sitzplatz zu sichern. Ich frage mich, was ich zuerst besetzen würde. Einen Sitzplatz oder ein Schließfach? Ohne Schließfach, kann man sich nicht lange in der Bibliothek aufhalten, ohne Sitzplatz kann man nicht wirklich effektiv lernen. Ein Dilemma! Oder gibt es gar genauso viele Schließfächer wie Sitzplätze?

Ich habe Glück, finde ein Schließfach und sogar einen Sitzplatz im obersten Stock. Als ich einen weiteren Platz für meine Freundin reservieren will, die zehn Minuten später kommt, weil sie die U-Bahn verpasst hat, ernte ich Blicke, die töten könnten. Ich bin erleichtert, als sie schließlich keuchend vor mir steht und der für sie bestimmte Platz noch nicht belegt ist.

Vom Studenten zum Futterneider

Völlig gestresst von der Sitzplatzjagd beschließen wir, erst einmal einen Kaffee trinken zu gehen. Auf dem Weg nach unten begegnen wir einem gehetzten Studenten nach dem anderen. Alle keuchen, als wären sie gerade einen Marathon gerannt.

Unser Kaffee dehnt sich natürlich in ein zweites Frühstück aus. Wir diskutieren über die Berliner Bibliothekensituation, über Architekten mit dicken Eiern – „Der hätte das Ding auch mit mehr Sitzplätzen gestalten können, anstatt sich mit besonders abgefahrenen Konstruktionen zu profilieren!“ – und über das Schicksal unserer Generation: „Wir sind doch alle nur seelenlose Opfer einer hoffnungslos verlorenen Leistungsgesellschaft!“ Nur, um wenig später den Beweis für Letzteres zu finden.

Schließlich beschließen wir zurück zu gehen. Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Oben angekommen finde ich meine Lernutensilien auf dem Boden wieder und jemand anderes sitzt auf meinem Platz. Der smarte junge Herr mit dem weiß-rot-karierten Holzfällerhemd weist mich darauf hin, dass ich länger als eine Stunde weg gewesen sei. Meine Parkuhr zeige neun Uhr an, jetzt wäre es ja schon halb zwölf. Als ich protestiere, dass die Bibliothek doch erst um zehn aufmache, stürmt er wutentbrannt davon. Er habe einen Zeugen und wolle jetzt das Bibliothekspersonal holen. Wir würden ja sehen, wer dann hier den Platz räumen müsse.

Völlig von der Rolle setze ich mich auf den Platz, der einmal meiner war. Alle fünf Minuten biegt jemand Keuchendes um die Ecke, blickt gierig suchend in den Raum und dreht enttäuscht oder vielleicht eher abgenervt wieder um. Sogar im siebten Stock ist kein Platz mehr frei. Der Student als Aufklärungsdrohne. Der Kommilitone als Feind. Es weht ein rauer Wind im Grimm-Zentrum.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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