Die Erwartungen an den Lebenslauf sind hoch. Zu hoch. Warum nicht ein bisschen schummeln? Hannah Knuth hat ihren Lebenslauf, nun ja, aufgehübscht – und sich beworben.
Der Anzugträger auf der anderen Seite des Schreibtisches beugt sich nach vorne. „Sie haben also im letzten Jahr drei Praktika während des Studiums absolviert?“ Ich nicke. Herzrasen. „Und trotzdem einen Notendurchschnitt von 1,4.“ Das ganze Blut meines Körpers strömt in die Wangen. Ich ahne, in welche Richtung das geht. Gleich fliege ich auf. Der Anzugträger zieht seine Augenbrauen hoch und schaut mich auffordernd an. „Das ist ja ganz schön beachtlich.“
Tja, wer würde mich nicht gerne einstellen? Mit meinen angegebenen 23 Jahren bin ich der Traum eines jeden Arbeitgebers. Ich studiere im fünften Semester Deutsche Philologie und Politikwissenschaft. Ich habe ein Jahr am University College London studiert, ein Praktikum beim Taschen Verlag in Paris gemacht und ein soziales Jahr in Indien. Außerdem spreche ich fließend Englisch, Französisch und Spanisch und habe ein Latinum in der Tasche.
Die Wahrheit: Dieser Lebenslauf ist geschönt. Sehr geschönt. Man könnte auch von einer Fälschung sprechen. Doch wird das irgendwem auffallen? Wie weit werde ich es mit diesem Lebenslauf schaffen? Ich bewerbe mich für acht Praktika bei verschiedenen Verlagen und Online-Redaktionen – und der Zuspruch ist gigantisch! Die meinen das wirklich ernst. Niemand will Studiennachweise oder Zeugnisse sehen.
Am Tag meiner großen Show steige ich um 10 Uhr am Alexanderplatz aus und blicke mit großen Augen auf das Hochhaus des Berliner Verlags. Mir steht ein Bewerbungsgespräch um einen Praktikumsplatz bei dem Internetportal „Berlin Online“ bevor. Das Hochhaus wirkt mächtig. Auf einmal bekomme ich Angst.
Im Fahrstuhl nach oben bemerke ich meine schwitzigen Hände. Scheiße. Ich suche verzweifelt nach etwas Kühlendem. Vergeblich klatsche ich meine rechte Hand gegen die Fahrstuhlwand. Oben angekommen melde ich mich bei der Assistentin. Sie gibt mir einen verwunderten Blick: „Hannah Knuth?“ Die Assistentin bringt mich in einen kleinen Konferenzraum. Beim Herausgehen fragt sie, ob ich was trinken möchte. Und mit einem Mal fühle ich mich moralisch schlecht. Ich stehle ihnen nicht nur die Zeit, sondern auch die Getränke.
Mit der kalten Wasserflasche in der rechten Hand blicke ich aus dem großen Fenster über Berlin. „Schöner Ausblick, nicht?“, ertönt eine junge Männerstimme von hinten. Ich drehe mich um und schaue einem hübschen, braungebrannten Prinz Charming in die Augen. Traumtyp. Ich reiche ihm meine Hand. Muss er nicht sofort erkennen, dass ich mich als drei Jahre zu alt ausgebe? Wir setzen uns hin und beginnen zu reden.
Es dauert eine ganze Weile, bis er den Lebenslauf in die Hand nimmt. „Du bist also im fünften Semester“, stellt er fest und blättert routiniert durch die Unterlagen. „Dann steht ja demnächst deine Bachelorarbeit an, was ist denn das Thema?“ Ich grinse, auf die Frage bin ich vorbereitet. Bei der Antwort hole ich ein bisschen weiter aus und erwähne den Auslandsaufenthalt in London, meine vielfältigen Sprachkenntnisse und den brillanten aktuellen Notendurchschnitt. Mein Gegenüber wirkt beeindruckt. Wow, ich bin super im Lügen. Wieso habe ich das nicht schon viel früher ausprobiert? Vielleicht wäre ich jetzt in Oxford und nicht an der FU.
„Zeugnisse waren jetzt nicht dabei“, sagt er. „Aber da kann ich ja davon ausgehen, dass das alles so stimmt.“ Soll das eine Frage sein? Ich gebe ihm ein unsicheres „mm- hmm“ und rattere im Kopf meine Möglichkeiten durch: Jetzt was sagen, später was sagen, gar nichts sagen. Lieber gar nichts sagen. Wir verstehen uns doch gerade so gut, Prinz Charming und ich. Außerdem habe ich den Platz noch nicht. Ich bemerke plötzlich, wie mich zwei Augen fragend angucken. Mist, was hat er noch gleich gefragt? Ob ich noch irgendwelche Fragen habe? „Nein“, antworte ich. Aber ich hätte dir einiges zu gestehen.
Zweiter Versuch. Bewerbungsgespräch bei einer gemeinnützigen GmbH für Kommunikation. Ich habe ein schlechtes Gewissen – trägt meine Mission zum Gemeinnutz bei? Irgendwie schon. Mit dieser Überzeugung betrete ich beruhigt das Foyer des Bürogebäudes am Checkpoint Charlie.
Der Geschäftsführer wirkt auf den ersten Blick wahnsinnig einschüchternd, obwohl er noch recht jung ist und aussieht wie Jakob Augstein. Er will alles wissen: meine Ziele, meine Wünsche, meine Erwartungen an das Leben. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich improvisiere und versuche dabei akribisch, die im Lebenslauf genannten Erfahrungen einzubringen. Trotz einladender Vorlagen fragt er nicht nach. Bis auf eine Bemerkung über meine Sprachkenntnisse hat er meinen Lebenslauf nicht kommentiert. Leicht verwirrt verabschiede ich mich von ihm. Wer bewirbt sich hier denn sonst noch, wenn mein Lebenslauf keine Besonderheit ist?
Ein paar Tage später ist eine Nachricht auf meiner Mailbox. Eine Zusage. Die Kommunikations-GmbH möchte mich als Praktikantin für die Presse- und Öffentlichkeitsstelle. Mit Herzrasen drücke ich auf die Rückruftaste. Das wird unangenehm.
Noch bevor der Geschäftsführer die Zusage wiederholen kann, erzähle ich ihm die Wahrheit. „Oh“, höre ich. Ein Moment Stille in der Leitung, dann sagt er: „Das ist jetzt schon ein bisschen komisch.“ Ja, da hat er wohl recht. Der Geschäftsführer erklärt mir, er habe sich den Lebenslauf gar nicht so genau angeguckt. Lieber lerne er die Leute erst einmal kennen, um zu sehen wie sie so persönlich seien, sagt er. Es komme bei solchen Praktika auch nicht so sehr auf die Qualifikation an, sondern auf die Motivation. „Als nächstes hätten wir schon nach Zeugnissen gefragt, bevor man einen Vertrag schließt, will man das sehen“. Na ja. Ich will es ihm glauben.
Eine Woche später kommt die Zusage von „Berlin Online“. Prinz Charming reagiert gelassen auf die Wahrheit – fast so, als sei er solche Aktionen gewohnt. „Mir ist das schon aufgefallen, dass deine Bewerbung keine Zeugnisse hatte“, sagt er. Auf ein Bewerbungsgespräch um eine Festanstellung hätte er sich besser vorbereitet.
Es ist verführerisch, das Spiel mit der Identität. Aber will man auf Basis einer Lüge Tag für Tag im Büro sitzen? Ich will das nicht. Obwohl, es ist ja so schön einfach: Weder „Berlin Online“ noch dem Geschäftsführer der Kommunikations-GmbH ist aufgefallen, dass ich es gemeistert habe parallel zu meinem Sozialen Jahr in Indien in einem Hamburger Altenheim auszuhelfen. Vielleicht wollten sie es nicht merken. Vielleicht erfüllte es aber auch genau ihre Anforderungen.
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