„Nimm dir verdammt noch mal die Zeit!“

Der Lebenslauf ist längst Statussymbol. Die Dauer des Studiums spielt dabei eine tragende Rolle – angeblich zumindest. Sollte uns das kümmern? Tycho Schildbach und Katharina Fiedler haben mit einem Langzeit- und einem Turbostudenten über Sinn und Unsinn ihrer Studiengestaltung diskutiert.

Filip Tuma (30, links) schreibt nach 13 Semestern seine Magisterarbeit in Sinologie. Christoph Schaller (22, rechts), genannt Chris, steht nach sieben Semestern vor seiner Masterarbeit in Mathematik. Fotos: Christoph Spiegel

FURIOS: Was ist für euch der Wert des Studiums?

Chris: Selbstfindung. (lacht)

FURIOS: Dafür hast du Zeit?

Chris: Ja, das geht schon. Im Studium kann man vieles tun, was man später nicht mehr machen kann.

Filip: Betreibst du Selbstfindung als Hobby oder im Studium?

Chris: Ich bin kein Mensch, der darin aufgeht nur zu studieren. Ich bin im Fußballverein und spiele außerdem zwei Instrumente. Selbstfindung betreibe ich also nebenher.

FURIOS: Deine Einstellung zum Studium ist also eher pragmatisch.

Chris: Ja. Ich wusste schon nach dem Abi, dass ich Mathe studieren und promovieren möchte.

Filip: Mit 21, als du deinen Mathe-Bachelor hattest, habe ich mein erstes Studium, Informatik, abgebrochen und nach einem Neustart gesucht. Ich würde niemanden verurteilen, der sich die Zeit nicht nimmt, um eine Entscheidung zu treffen. Ich habe sie gebraucht, also habe ich sie mir genommen.

„Der Lebenslauf bringt dich nur bis ins Personalbüro“

FURIOS: Die Frage ist, wie Arbeitgeber über Studierende urteilen, die länger brauchen als vorgeschrieben ist. Wie schätzt ihr eure Chancen auf dem Arbeitsmarkt ein?

Filip: Der Punkt ist, dass wir uns nicht nur auf die bekannten Arbeitgeber konzentrieren dürfen. Deshalb mache ich mir generell keine Sorgen, wenn ich bereit bin, ein bisschen über den Tellerrand zu schauen.

Chris: Es ist nicht so, dass ich denke, ich wäre der Beste und mich würde jeder nehmen. Ehrlich gesagt mache ich mir darüber nicht wirklich Gedanken. Aber hast du nicht Angst, als Arbeitnehmer unattraktiver zu sein, weil du lange studiert hast?

Filip: Nein. (lacht) Aber ich hatte natürlich diese Ängste.

Chris: Die hast du wieder abgelegt?

Filip: Der Lebenslauf bringt dich wirklich nur bis ins Personalbüro. Bei allem danach kommt es auf dich an und nicht auf deinen CV. Die Arbeitgeber wollen wissen, ob du die Arbeit machen kannst.

Chris: Aber gerade wenn es um eine Beförderung geht, schaut der Personalbereich noch mal drüber.

FURIOS: Also legst du großen Wert auf einen lückenlosen Lebenslauf?

Chris: Nein, aber ich denke, es hat Vorteile. Es ist nicht der alles entscheidende Faktor, aber viele Unternehmen checken bei Bewerbungen erst einmal den Standardlebenslauf auf Regelstudienzeit und Auslandssemester.

Filip: Nach diesem Schema wirst du nicht die besten Mitarbeiter finden. Aber da die Personalabteilungen der großen Unternehmen genau so arbeiten, poliert jeder seinen Lebenslauf auf. Tätigkeiten werden danach ausgewählt, wie sie sich im CV machen. Wenn das jeder macht, verliert der Lebens- lauf an Wert und an dem Punkt sind wir schon längst.

„Das System funktioniert nicht, wenn jeder so lange studiert“

FURIOS: Der Lebenslauf ist also ein Statussymbol?

Filip: Ja, genau.

Chris: Da ist schon was dran.

FURIOS: Wir studieren an einer staatlichen Uni. Kannst du, Filip, den Vorwurf nachvollziehen, dass du so lange Zeit auf Kosten der Steuerzahler studiert hast?

Filip: Das ist die Art von Propaganda, mit der die Bologna-Reform begründet wurde. Ich bin noch keine produktive Kraft dieser Gesellschaft. Aber was ist der Aufwand, den der Staat und die Uni haben, dass ich mich in Seminare setze? Die müssen die Gebäude in Stand halten und die nutze ich. Aber das hätten sie auch getan, wenn ich nicht hier wäre.

Chris: Wenn das jetzt aber jeder sagt, funktioniert das System nicht.

Filip: Wir bemessen das Studium heute ausschließlich nach den potenziellen Produktivkräften: Welche Kosten ersparen wir der Gesellschaft? Was dabei völlig außer Acht gelassen wird, sind die Gedanken, die hier ausgetauscht werden.

Chris: Ich bleibe dabei: Nicht jeder kann es so machen wie du.

Filip: Ich habe den Eindruck, dass da ein unglaublicher Bruch zwischen unseren Generationen ist, was die Gesellschaft von einem erwartet. Jede Sekunde, die du länger Student bist, giltst du als Schmarotzer. Ich bin hier, um mich ernsthaft mit Themen auseinanderzusetzen, die ich nicht in einem Sechssemesterstudium lösen kann.

Chris: Man kann sich auch drei Jahre mit irgendwas auseinandersetzen und nicht sehr produktiv dabei sein.

Filip: Wenn es dir um Produktivkraft geht, mach’ eine handwerkliche Ausbildung. Man geht nur noch an die Uni, um einen Schein zu haben, wo „Universität“ draufsteht.

FURIOS: Hat bei dir vielleicht auch Bequemlichkeit eine Rolle gespielt?

Filip: (lacht) Das Problem ist, obwohl wir noch unser ganzes Leben vor uns haben, wird uns suggeriert, den perfekten Lebenslauf haben zu müssen: eine fröhliche Familie, Auslandserfahrung, einen super Job und fünf Hobbys – das ist der Anspruch heute. Irgendwann muss man sich entscheiden.

Chris: Man kann doch mehrere Dinge gleichzeitig machen. Ich wäre nicht zufrieden damit, weniger als 30 Leistungspunkte im Semester zu machen.

FURIOS: Du bist aber auch ein Stressjunkie!

Chris: (lacht) Ich stehe da überhaupt nicht drauf. Wie kann einem Stress Spaß machen? Ich bin total happy, wenn ich etwas geschafft habe.

FURIOS: Aber du rennst von einem Erfolg zum nächsten, weil dich das so glücklich macht?

Chris: (lacht) Nein, nein, nein! Ich finde Stress doof! Trotzdem schiebe ich keine Auf- gaben vor mir her. So ein Wischiwaschi ist für mich keine Option.

Filip: Aber wenn du alles gleichzeitig machst, leidet irgendwann die Qualität. Ab einer gewissen Belastung kannst du einfach nicht das Ergebnis abliefern, das du möchtest.

Chris: Das ist echt der Kernunterschied zwischen uns. Für dich ist es der Anspruch, etwas qualitativ Hochwertiges zu machen. Ich hingegen will Ziele sofort durchsetzen. Ich denke schon, dass die Qualität mitunter leidet. Manchmal finde ich es schade, nicht die Zeit zu haben, noch weiter in die Tiefe zu gehen.

Filip: Aber da sag’ ich dir ganz offen: Du bist 22 – nimm dir verdammt noch mal die Zeit!

Chris: Wenn ich alles mache, was mich interessiert, würde ich nicht fertig werden. Für mich ist es kein erstrebenswertes Ziel ewig zu studieren. Das passt nicht in mein Gesellschaftsbild.

„Selbstzweifel sind für mich eine Schwäche“

FURIOS: Gab es Momente, in der ihr euer Studienkonzept in Frage gestellt habt?

Chris: Nö.

Filip: Keine Zeit für Selbstzweifel?

Chris: Natürlich nicht. Selbstzweifel sind für mich eine Schwäche.

Filip: Polemisch gesagt: Deine Generation ist nicht mehr in der Lage, Zweifel auszuhalten. Ich war nicht immer von dem überzeugt, was ich tue. Aber gerade das bringt dich voran. Ich bin aus solchen Phasen immer gestärkt hervorgegangen.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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