The British Sonderweg

Die EU steckt in einer Identitätskrise. Jetzt droht eines der wichtigsten Mitglieder damit, den Staatenbund zu verlassen: Großbritannien. Aber wie sehen das die Studenten im Land? Von Maik Siegel

Miguel (v.l.), Maik und Klaire debattieren am Küchentisch über Politik. Im Hintergrund: Die Universität in Leeds. Fotos: Maik Siegel, Illustration: Valerie Schönian

Es ist fast vier Uhr in der Früh und wir sitzen noch immer diskutierend um den runden Küchentisch: Eine Australierin, ein Spanier und ein Deutscher. Es geht mal wieder um die Europäische Union – mit all ihren Vor- und Nachteilen. Ich werbe vor Klaire aus Übersee für das große gemeinsame Projekt der europäischen Länder. Ich sage ihr, dass Europa heute nur als Einheit eine Chance hat, sich in der Weltpolitik zu behaupten. Miguel sieht das anders. Der Spanier kann in seiner eigenen Heimat beobachten, dass sich die EU in einer tiefen Krise befindet.

Für ihn sind die kulturellen Unterschiede zu groß, die EU könne nicht als Einheit auftreten. Klaire, Miguel und ich studieren ein Semester lang im englischen Leeds. Wir wohnen mit 250 anderen internationalen Studenten, vor allem aus dem Erasmus-Programm, in einem Wohnheim. Wir leben die Idee eines vereinten Europas. Doch wir befinden uns in einem Land, das von dieser Idee nicht mehr viel hält. Denken die Briten wirklich so?

The English Angst

Zumindest viele. Kim Levy fordert ebenfalls den Austritt aus der EU. Aus patriotischen Gründen, sagt sie, während sie in ihrem schwarzen Filterkaffee rührt. „Ich möchte nicht mit dem europäischen Stereotyp assoziiert werden.“ Wenn man sie fragt, wie der aussieht, blickt sie stumm auf ihre dunkle Brühe. Levy ist gerade einmal 20 Jahre alt. Sie studiert Philosophie und Klassische Literatur an der University of Leeds, einer sehr internationalen Universität mit Mitgliedern aus mehr als 140 Ländern.

„Europe“, das ist für viele Iren, Engländer und Schotten das Festland, nicht aber sie selbst. Levy ist mit ihrem Plädoyer für den Austritt keine Ausnahme. Laut einer Umfrage der Financial Times im Februar 2013 wollen nur noch 33 Prozent der Briten in der EU bleiben, 50 Prozent würden für einen Austritt stimmen.
Eine Sonderrolle Großbritanniens?

„Mit dem Austritt könnten wir die volle Kontrolle über unsere Grenzen zurückerlangen“, sagt Michael Billam, ein hochgewachsener Erstsemestler, während er die Pause auf dem Campus der Leeds-Universität genießt. Er ist mit 19 Jahren um die Souveränität seines Landes besorgt: Neue Bestimmungen aus Brüssel sorgen regelmäßig für Schlagzeilen bei den englischen Gazetten. Trotzdem: „Ich würde für den Verbleib in der EU stimmen“, sagt er. Er weiß, dass ein gemeinsamer Staatenverbund seine Arbeitsmarktchancen als Brite erhöhen kann. „Allein für den Handel braucht Großbritannien die EU.“

Der kulturelle Austausch ist wichtig

Einen weiteren Vorteil des Staatenverbundes sieht man direkt auf dem Campus: Englisch ist längst nicht die einzige Sprache, die einem im Stimmengewirr entgegenschlägt, und im „Global Café“ treffen sich wöchentlich dutzende internationale Studenten zum Austausch mit den englischen Kommilitonen. Die lebendige internationale Studentenszene in Leeds wäre ohne die EU wohl nicht möglich. Ein Versiegen des kulturellen Austausches: Daran kann kein Student, aber auch kein Brite interessiert sein.

Inzwischen graut der Morgen, in unserer Küche scheint die fahle englische Sonne hinein. Genau wie die britischen Studenten haben wir uns a a uf keine gemeinsame Sichtweise geeinigt. Die EU bleibt hart umkämpftes Diskussionsthema, sowohl bei unseren englischen Kommilitonen als auch bei uns Austauschstudenten. Einigkeit über den jungen Staatenverbund wird wohl nie herrschen. Aber solange wir uns noch um einen runden Tisch versammeln, sollte das kein allzu großer Grund für Besorgnis sein.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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