Stoff für Stieg Larsson

Verspätungen, Baustellen und Umleitungen im Berliner Nahverkehr. Veronika Völlinger trauert in fünf Phasen den Zeiten nach, als der gelb-rote Zug sich noch die Mühe machte, die Stadt zu umrunden.

Illustration: Cora-Mae Gregorschewski

„Du, die Ringbahn wird bald unterbrochen; die bauen zwischen Südkreuz und Bundesplatz“, teilt mir ein mitfühlender Nicht-Ringbahn-Nutzer mit. Dazu eine Zeitungsgrafik: Das Ausmaß der Katastrophe illustriert durch zwei parallele Linien mit klaffendem Loch in der Mitte. Ich spüre schon meine Nerven entgleisen.Bereits jetzt trauere ich um die verlorene Lebensqualität der kommenden Wochen. Fünf Phasen, und alle wie gemalt für einen beknackten Stieg-Larsson-Romantitel.

Phase eins: Leugnung. Neee, fängt doch erst an, wenn längst keine Vorlesungen mehr sind. Das betrifft mich ja gar nicht. Ach, Juni? Nicht Juli? Juno statt Julei? Lirum, larum – ich fahre einfach immer mit dem Fahrrad, ist doch Sommer.

Schweißperlen tummeln sich schon beim Gedanken daran auf meiner Stirn. Natürlich fahre ich letztendlich nicht mit dem Drahtesel nach Dahlem. Welch kühner Gedanke! Ich erreiche Phase zwei: Zorn. Warum, bitte warum genau müssen diese Bauarbeiter drei Wochen vor Semesterende ihre Schutzhelme aufziehen, sich das Schienen-Schweißgerät unter den Arm klemmen und munter über Schotter kraxelnd zur S-Bahnstrecke zwischen Südkreuz und Bundesplatz pilgern?

Es ist ja nicht so, dass Ringbahn-Fahren nicht schon anstrengend genug wäre! Mal ‘ne nette „Pause“ einlegen auf Höhe des Tempelhofer Felds – kein Problem: Der Fahrer kann in seine Stulle beißen und es gibt sogar einen schönen Ausblick. Wo anders halte ich allen 30 Schülern der Klassenfahrt die Tür auf, bis die Tür so oft zugehen will, dass ich meine, Paul Kalkbrenner zu hören? Nur in der Ringbahn, meiner Perle!

Doch ich kann mir die Situation nicht ewig madig reden. Erschöpft und mit hochrotem Kopf trete ich in Phase drei ein: Verhandlung. Wird doch gar nicht so schlimm. Diese Zeitangaben, die die BVG immer macht. Beziehen die sich auf bekiffte Faultiere? Pah, die kann ich überlisten. Einfach schon immer an die Ausgänge postieren. Sechs Minuten Umsteigezeit? Ha, ihr glaubt wohl nicht, dass ich es in einer Minute schaffe! Challenge accepted!

Dann Phase vier: Verzweiflung. Der morgendliche Aufbruch wird zum Kampf. Eigentlich will ich gar nicht vor die Tür. Denn, das muss ich erkennen: Es dauert doch länger. Um einiges länger. Statt pünktlich ein akademisches Viertel nach dem akademischen Viertel den Hörsaal zu betreten, wird es jetzt, na ja, später. Ich verbringe mehr Zeit in der Bahn als in der Uni. Sinnlos, so sinnlos ist das.

Irgendwann stellt sich Phase fünf ein: Umarmung. Plötzlich beginne ich mich mit meiner langen Fahrt abzufinden, gar anzufreunden. U7, du dich lustig durch die Stadt schlängelnder U-Bahngigant und mein Ringbahn-Ersatz. Ich weiß jetzt auf den Zentimeter genau, wo ich mich am Gleis aufstellen muss, damit ich bequem vor der Treppe am Fehrbelliner Platz austeigen kann, die zur U3 führt. Minuten, ach was, Millisekunden, die entscheidend sein können.

Und noch besser: Am Ende des Semesters schaffe ich es endlich, vorbereitet in meine Seminare zu kommen, der schier endlosen Bahnfahrt sei Dank! Bald wird die U8 unterbrochen, meine Aorta im Hauptstadt-Kreislauf. Doch ich bin völlig ruhig, vielleicht fährt ja dann die Ringbahn wieder. Vermutlich nicht. Was soll’s, ich war am Ende, habe um sie getrauert, aber jetzt weht mir wieder Fahrtwind um die Nase. Was einen nicht umbringt, macht einen stärker. Muss ich der BVG dafür sogar dankbar sein? Und wann greift Stieg Larsson diesen Stoff endlich auf?

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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1 Response

  1. Steffen sagt:

    Nette Glosse, bis auf den letzten Satz: Der gute Mann wird das wohl nie aufgreifen, da tot.

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