Wie zwei Menschen ein Land verlassen, weil es Krieg gibt. Wie sie dann ihre zweite Heimat verlassen, weil es Berlin gibt. Julian Niklas Pohl zeichnet post-nationale Lebenswege nach.
Als ich Steffy zum ersten Mal in einem Seminar gesehen habe, dachte ich: Oha. Ein Schwede. Wie nett. Er sieht wirklich aus wie die Karikatur des besten Vorzeigeschweden. Er ist ein wandelndes Klischee: blonde kurze Haare, helle Haut, helle Augen. Enna, die damals gleich neben ihm saß, hat dunklere Haut, schwarze Haare, dunkle Augen; für Schweden sieht sie vermutlich „ausländisch“ aus. Sie sticht kaum durch eine scheinbar offensichtliche Nationalität hervor. Enna könnte von überall her sein.
Enna und Steffy sind Mitte 20 und studieren Politikwissenschaft an der FU. Sie sind keine Schweden, keine Bosnier, keine Deutschen, sagen sie. Eher würden sie sich als Ex-Sarajevoer, Ex-Örebroer, Ex-Stockholmer, und Nun-Berliner bezeichnen. Und das auch nur, wenn es sein müsse.
Spricht sie allerdings jemand in einer Bar an, sagen sie trotzdem meistens: „I come from Sweden“ – das klingt ja irgendwie sexy. Obwohl, überlegt Steffy, in Gaybars wirke es eigentlich attraktiver, zu sagen, er sei Bosnier. Unter Schwulen scheint das irgendwie gerade im Trend zu sein, Osteuropa, Balkan, was auch immer.
Ein Riesenzufall
Enna und Steffy wurden beide in Bosnien geboren, beide flohen sie vor dem Krieg aus Sarajevo nach Schweden. Steffy verließ Bosnien mit seiner Familien 1992, da hatte der Krieg gerade erst begonnen: „Unser Haus stand direkt im Zentrum, praktisch neben dem Parlament, und alles um uns herum wurde bombadiert. So my mum was like: oh my god, let’s get the fuck out of here.“ Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine offiziellen Bemühungen, Flüchtlinge aus dem Land zu bekommen, aber die regulären Züge fuhren noch.
„Ziemlich clever“, meint Enna, denn: „Zu diesem Zeitpunkt zu fliehen – das ist ja genau das, was die Leute normalerweise nicht gemacht haben.“ Der Krieg werde bald vorbei sein. Es werde alles bald vorbei sein. Das seien nur Kriminelle, die da schießen; der Staat werde sie schon bald stoppen – all das redete man sich ein. Doch mit jedem Tag wurde die Situation für Steffys Familie aussichtsloser. Und warum dann Schweden? Irgendwie banal: Die Fähre nach Dänemark war schon weg.
Ein Riesenzufall also, dass sich Enna und Steffy 1994 im gleichen Raum der Integrationsschule im kleinstädtischen Örebro gegenübersitzen. Sie wurden Freunde und gingen zusammen zur regulären Schule: der „schwedische“ Junge und das „ausländische“ Mädchen. „Das Leben“, wie Steffy sagt, „hat uns miteinander verflochten. Wir verstehen uns auf eine Art und Weise, die niemand nachvollziehen kann.“ 20 Jahre, Seite an Seite. Von der mittelschwedischen Immigrantenschule bis in die Oranienstraße.
Steffys Wille nach Nation
Die Fähigkeit, sich vollständig in eine Gesellschaft zu integrieren, gleicht bei Enna und Steffy einem angeborenen Körpermerkmal. Es ist einfach ungerecht: Beide sprechen sie makelloses Schwedisch, beide wurden sie zwar in einem anderen Land geboren, verbrachten aber die meiste Zeit ihres Lebens in Örebro – doch nur Steffy hat sich nie irgendwelche rassistischen Sprüche anhören müssen.
Enna hingegen schon. Sie wurde selbst Jahre nach ihrer Einwanderung von ihrem Arzt noch gefragt, wie es ihr denn in Schweden so gefalle. Oder sie musste sich von Mitschülern erklären lassen, was man denn in Schweden zu Weihnachten isst. Die gesamte Mittelstufe hindurch verschwieg Steffy seine bosnische Herkunft – einfach, weil er es konnte. Um ihn zu ärgern, machte sich Enna einen Spaß daraus, ihn vor Mitschülern auf Bosnisch anzusprechen. Steffy tat dann so, als verstünde er nichts.
Steffy identifizierte sich den frühen Phasen seines selbstbewussten Lebens mit der Nation, die er am ehesten zu der seinigen machen konnte. Enna sagt: „Steffy schämte sich für seine bosnischen Wurzeln.“ Er wollte einfach nur Schwede sein. Eine Schutzreaktion? Als „sichtbar“ schwuler Jugendlicher sei er sowieso genügend aufgrund von Äußerlichkeiten gemobbt worden, sagt Steffy.
Die Leugnung seines Migrationshintergrundes ist demnach der Versuch, weniger Angriffsfläche zu bieten, vermutet Enna. „Maybe, maybe, maybe“, sagt Steffy nachdenklich. Den Willen, zu einer einzigen Nation gehören zu wollen, hat er längst überwunden.
Reise, Reise, Heimat, Heimat
Der Berliner Sommer lockte sie einst nach Deutschland, als zwei von abertausenden Touristen. Doch am Ende dieses Sommers stand für Enna fest, dass sie Berlin zu ihrem Leben machen will, wie sie es ausdrückt. Berlin wurde zu Ennas „Safe Haven“, ihrem neuen Zukunftsprojekt. Als sie ihrer Familie von ihrem Vorhaben erzählte, reagierte besonders ihre Mutter mit Unverständnis. Warum wollte ihre Tochter sich schon wieder von ganz „unten“ hocharbeiten, in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht?
In Schweden hatten Ennas Eltern ihr ein Leben aufgebaut, alle Türen standen ihr offen. Warum nur tat sie sich das an? „Berlin, das fühlt sich einfach ab dem ersten Tag an wie eine Heimat“, sagt Enna. Sie benutzt bewusst das deutsche Wort: Heimat. Weil das mehr ist als ein „home“. Steffy und Enna leben jetzt in Kreuzberg, der multikulturellsten Umgebung, die man sich vorstellen kann. Die rassistische Diskriminierung gegenüber Enna hörte auf. Die Schwulenwitze über Steffy auch.
Die Beiden sind sich einig: Ihre fremdbestimmte Flucht aus Bosnien gibt ihnen das befreiende Gefühl, überall und jederzeit ein neues Leben aufbauen zu können, sollte dies nötig oder eben wünschenswert sein. Einmal haben sie es schon getan: Berlin war ihnen Grund genug. Nun aus Sehnsucht und nicht aus Zwang, haben sie ihren Alltag und ihre Sicherheit eingetauscht für den Traum einer glücklichen Zukunft in einer neuen Heimat.