Gebärde mal Thukydides!

Studieren ohne Gehör – dank Gebärdensprachdolmetschern ist das möglich. Karl Kelschebach und Hannah Zabel haben sich mit einer tauben Kommilitonin und ihrer Dolmetscherin getroffen.

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Trialog ganz ohne Ton: Bernadette Zwiener (v.l.), Swantje Marks und Birte Heyrock vor dem Roten Café. Foto: Julian Daum

Aufmerksam blickt Swantje Marks nach vorn. Dieses Seminar wird eine Herausforderung, eine Flut von Fremdwörtern rollt auf sie zu. Abwechselnd schaut sie geradeaus zu den Folien, die über die Wand huschen, dann blickt sie wieder nach rechts. Dort sitzen Bernadette Zwiener und Birte Heyrock. Heyrock schaut auf die Folien, Zwiener bewegt ihre Hände, formt mit ihrem Mund so etwas wie A-, dann O-Laute und schaut abwechselnd von Swantje zur Dozentin. Sie übersetzt. Nur hört der Rest des Kurses sie dabei nicht – sie dolmetscht das gesprochene Wort der Dozentin für Swantje in Gebärdensprache. Swantje ist eine von fünf tauben Studierenden an der Freien Universität Berlin.

Die 26-Jährige studiert Sozialkunde, ein Fach voller abstrakter Begriffe, über die Mimik und Gestik der Dozenten wenig Aufschluss geben. Um dennoch alles zu verstehen, bestellt sie regelmäßig Gebärdensprachdolmetscher in ihre Lehrveranstaltungen. „Das ist eine sehr mühsame Prozedur“, schreibt Swantje. „Die Kostenübernahme muss ich Monate im Voraus beim Studentenwerk beantragen.“ Wir unterhalten uns per E-Mail, denn das Zeitkorsett ihrer Dolmetscherinnen ist eng geschnürt. Auch ihren Stundenplan muss Swantje mit ihnen bis ins Detail absprechen und sich deshalb sehr früh entscheiden, welche Veranstaltungen sie belegen möchte. Die so genannte „Shoppingwoche“ zu Beginn des Semesters, in der sich die meisten mehrere Veranstaltungen anschauen, ehe sie sich entscheiden – für Swantje nicht machbar.

In der heutigen Sitzung geht es um den Klassischen Realismus, eine politikwissenschaftliche Theorie. Nicht mal die „Konfliktlösungspotentiale von Militärallianzen“ werfen Zwiener und Heyrock aus der Bahn. Gebärde für Gebärde fliegt in den Raum – und Swantje scheint sie mühelos aufzufangen. Sie nickt, macht sich Notizen, gleicht die Gebärden mit den Worten auf der Folie ab. Nur einmal hakt es bei den Dolmetscherinnen: Wie gebärdet man den griechischen Namen Thukydides?

Diese Gebärden sind im Unialltag unentbehrlich. Illustration: Luise Schricker

Diese Gebärden sind im Unialltag unentbehrlich. Illustration: Luise Schricker

Die akademische Sprache an Universitäten verlangt Gebärdensprachdolmetschern viel ab. Ihre Arbeit beschränkt sich nicht nur auf die Vorlesungen und Seminare. Simultanes Übersetzen braucht viel Vorbereitung. Schon zu Beginn des Semesters hat sich Swantje mit ihrer Dolmetscherin Zwiener getroffen, um Fachausdrücke zu klären, die im Semester wichtig werden.

Bisher hätten sich Begriffsunklarheiten auf diese Weise aus dem Weg räumen lassen – schließlich sei Gebärdensprache nicht einfach ein Behelf, um das Nötigste zu vermitteln, sondern eine Sprache wie jede andere. „Sie verfügt sogar über eine eigene Grammatik“, erklärt Swantje. Die Schriftsprache sei daher für viele Taube eine Fremdsprache. „Die auditive Sprache ähnelt der Schriftsprache, die Gebärdensprache nicht“, erläutert sie.

An Vielfalt aber mangelt es auch der Gebärdensprache nicht: Sie weist eine ganze Reihe von Dialekten auf. Sächsisch zum Beispiel klingt nicht nur anders als Berlinerisch, sondern sieht auch anders aus. Zwiener bereiten die regionalen Eigenheiten manchmal Kopfzerbrechen: „Wenn in einer Veranstaltung zwei Studierende aus zwei unterschiedlichen Bundesländern sitzen, ist es schwierig zu entscheiden, an wen wir uns anpassen.“

Doch nicht nur Dialekte machen das Dolmetschen zur Herausforderung. Jede Übersetzung ist zugleich eine Interpretation. „Nehmen wir etwa das Wort ›Kurve‹“, sagt Zwiener. „In der Gebärdensprache muss ich jede Kurve entweder als Rechts- oder Linkskurve übersetzen – auch wenn von diesem Detail gar nicht die Rede war.“ So muss Zwiener mitunter mehr übersetzen als tatsächlich gesagt wurde. Das erfordert Konzentration. Daher sind immer zwei Gebärdensprachdolmetscher anwesend, die sich alle zehn Minuten abwechseln, einander bei Schwierigkeiten aushelfen – und auch mal beim Dozenten nachfragen, um adäquat dolmetschen zu können.

Alle Verständigungsschwierigkeiten können die Dolmetscher dabei nicht beheben: Wortspiele etwa können sie nur inhaltlich übersetzen – der Witz gehe aber meist verloren. Swantje spricht dann von einem „Kulturkonflikt“ zwischen hörenden und nicht-hörenden Menschen. Besuche sie mit Kommilitonen, die gebärden können, gemeinsam eine Veranstaltung, würden sie sich automatisch zusammen organisieren, etwa wenn es ums Lernen gehe. „Trotzdem will ich mich nicht ausschließlich mit anderen tauben Studierenden austauschen“, meint sie. Sie sei sehr gern in der Gebärdensprachgemeinschaft – „das schließt auch hörende Leute mit Gebärdensprachkompetenz ein“.

Das Wort „gehörlos“ sehen Swantje und Zwiener kritisch: Es sei ausschließlich defizitorientiert und mit der Vorstellung verknüpft, taube Menschen seien hilfsbedürftig. „Dabei ist das nicht so: Gebärdensprachdolmetschen ist ein Beruf. Die Dolmetscherinnen und Dolmetscher helfen nicht, sondern kommen zum Einsatz, wenn sie bestellt werden“, findet Swantje.

Ginge es nach ihr, könnte das jedoch häufiger der Fall sein. Swantje wünscht sich zu den Videos auf der FU-Webseite, bei Gesprächen mit der Studierendenverwaltung und bei Veranstaltungen jenseits des Stundenplans eine simultane Übersetzung für taube Menschen. Der Status Quo ist davon jedoch weit entfernt.

Information: Gebärdensprache ist die älteste Sprache der Welt. In Deutschland wurde sie jedoch erst 2001 offiziell als Sprache anerkannt. Zuvor galt sie jahrhundertelang als verpönt. Ihre ausdrucksstarke Mimik wirkte auf viele Menschen unästhetisch, viele bezeichneten Gebärden abfällig als „Gefuchtel“. Die katholische Kirche wähnte Taube sogar vom Paradies ausgeschlossen: Wer taub sei, könne das Wort Gottes schließlich nicht empfangen. An europäischen Schulen wurden Gebärden im Jahr 1880 verboten. Tauben Kindern wurden in der Schule die Hände hinter dem Rücken festgebunden, damit sie nicht gebärdeten. Man hoffte, sie dadurch zum Sprechen zu zwingen: Da sie über Stimmorgane verfügten, glaubte man, sie müssten diese mit etwas gutem Willen auch einsetzen können – Ignoranz, die Tauben noch heute begegnet. Das Land Berlin stellt für taube Studierende jährlich 400.000 Euro zur Verfügung, 2014 soll der Betrag erhöht werden

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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