Staatsfeind im Cadillac

Burkhart Veigel wollte nicht wegsehen, als sich 1961 die Sektorengrenze schloss. In acht Jahren verhilft er etwa 650 Menschen zur Flucht aus der DDR. Von Matthias Jauch und Bente Staack

Burkhart Veigels Stasi-Akte ist dick. „Insgesamt sind es 15.000 Seiten, davon beschäftigen sich 900 nur mit mir“, erzählt der jung gebliebene 75-Jährige, der noch schnell sein Smartphone beiseite legt. Ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit und Energie des DDR-Staatsappara- tes wurde dem damals 23-jährigen FU-Studenten ab 1961 zuteil. Das hatte seine Gründe: Denn während seine Kommilitonen im Hörsaal saßen, für Prüfungen lernten oder in vollen Zügen ihr Leben genossen, verhalf Veigel anderen Menschen zur Flucht aus der DDR. Heute, 50 Jahre später, sitzt er am Wohnzimmertisch seiner Grunewalder Wohnung und erzählt seine Geschichte.

„Als die Mauer gebaut wurde, war ich gar nicht in Berlin.“ Der Medizinstudent reist herum, durch Griechenland und Deutschland – für den Mauerbau ist zunächst wenig Platz in seinen Gedanken. „Ich hatte nur Sorge, dass ich nach den Semesterferien gar nicht mehr nach Berlin hineinkomme.“ Als er im Oktober wieder in Berlin ist, spürt er die Angst der Menschen – und ihre Wut. Sie überträgt sich auf ihn. „Ich hatte für dieses System nur Verachtung übrig“, sagt Veigel. „Sie mauerten einfach unsere Freunde ein! Diese Leute haben im Hörsaal neben mir gesessen.“

Von einem Tag auf den anderen wird der 23-Jährige politisch. Am 30. Oktober 1961 kommt ein Freund auf ihn zu und fragt, ob er seinen Kommilitonen zur Flucht verhelfen möchte. „Da habe ich keine Sekunde gezögert, ich sagte sofort zu.“ Das Studentenwerk der FU ist seit August eine zentrale Anlaufstelle von Fluchthelfergruppen in West-Berlin. Immerhin gibt es allein hier zu dieser Zeit 400 Grenzgänger-Studenten: Sie wohnen im Ostteil der Stadt, studieren aber an der FU im Westen. Veigel wird selbst zum Grenzgänger. Er fährt regelmäßig nach Ost-Berlin, um seine Kommilitonen auf die Flucht vorzubereiten. Nur wer vorgibt, aus dem Westen zu sein, kann die DDR verlassen. Also versorgt er sie als „Läufer“ mit den notwendigen Utensilien: Pässe aus Deutschland oder dem Ausland, Zigaretten und Fahrscheine. Namen, auch die von angeblichen Verwandten, Unterschriften, Kenntnisse über das Leben jenseits der Mauer.

Das alles als Zeugnis, dass es die vorgetäuschte Heimat im Westen tatsächlich gibt, denn die Grenzkontrollen sind peinlich genau. Die Flucht mit Ausländerpässen wird schnell zum Normalfall. Doch sie bringt auch Schwierigkeiten mit sich: „Wenn etwa jemand dem Pass nach Schwede war, kein Wort Schwedisch sprach, aber dafür perfekt berlinern konnte. Die ausgedachten Geschichten hierzu mussten sitzen.“ Bis zu sechs Leute am Tag holt Veigel so über die Grenze, einmal sogar zehn. „Von den 400 FU-Studenten haben wir fast alle rausgeholt. Und jeder, dem wir halfen, gab uns fünf weitere Namen für die Liste, die wir auch holen sollten.“ Die Fluchthilfe ist von Beginn an ein Schneeballsystem.

Weil Veigel erfolgreich ist, dauert es nicht lange, bis die Stasi auf ihn aufmerksam wird. Sie schleust einen Spitzel in die Fluchthelfer-Gruppe ein, den Veigel jedoch nach sechs Wochen enttarnt. Andere Gruppen und Fluchtwillige haben weniger Glück und laufen in die Arme der Stasi.

„Danach bin ich extrem vorsichtig geworden. Ab 1963 ist bei mir auf dem Gebiet der DDR nichts mehr schief gegangen.“ Seine Stasi-Akte enthalte von da ab nur noch Vermutungen zu den Aktionen des Medizinstudenten. Für Veigel nicht weniger gefährlich: „Ich wurde zum Staatsfeind und entging zwei Mal nur knapp einer Entführung, in West-Berlin 1964 und in Wien 1965.“ Auf dem Mexikoplatz kann er seine Verfolger nach langer Flucht abschütteln, in Wien scheitern sie auf der Haupteinkaufsstraße. Die DDR- Justizministerin will die vier Top-Fluchthelfer, zu denen auch Veigel gehört, gar hinrichten lassen. Als einziger der vier macht er trotzdem weiter – noch sechs Jahre lang. „Ich hatte keine Angst.“ Nur einmal, 1962. Da gräbt er einen Tunnel von West- nach Ost-Berlin und befürchtet unter dem Geröll begraben zu werden.

Im Westen und an der Uni entwickelt Fluchthilfe sich zum Politikum. In den Augen des damaligen FU-Präsidenten Ernst Heinitz hat die Universität ein Ort der Neutralität zu sein, kein Ort für Fluchthilfe. Auch der Asta fordert ein Ende der Hilfsaktionen, um mit dem Osten in direkte Verhandlungen über inhaftierte Studierende treten zu können. Veigel wird der Ausschluss aus dem Studentendorf angedroht, was eine Welle der Solidarität für ihn unter den Kommilitonen auslöst. Auch der Regierende Bürgermeister mischt sich schließlich ein. Zu dieser Zeit heißt er Willy Brandt. Er stellt sich hinter Veigel und die anderen Fluchthelfer. Präsident Heinitz knickt ein und Veigel bleibt.

Er und seine Gruppe feilen weiter an Fluchtmöglichkeiten. Besonders raffiniert und elegant: ein Cadillac, dem sie als Fluchtwagen immer wieder eine andere Gestalt geben und so der Grenzpolizei entwischen. „Nach jedem sechsten bis achten Flüchtling wurde aus ihm ein neues Auto kreiert“, erzählt Veigel verschmitzt. Aus dem Cadillac wird ein Mercury, dann ein Chevrolet. Neues Kennzeichen, neue Motorhaube, neue Papiere. Bis zu 200 Menschen gelangen so über die Grenze, ein immenser Erfolg. „Das Freikaufen eines Häftlings aus dem Osten kostete den Staat rund 100.000 Mark. Wir haben für die vielen Fluchten mit dem Cadillac nur halb so viel gezahlt.“ Das war auch günstiger als über Skandinavien in den Westen zu reisen – das kostete pro Person rund 2000 Mark. „Wer aus einem Land flüchtet und alles zurücklässt, darf doch nicht auch noch etwas für seine eigene Flucht bezahlen.“ Also nehmen Veigel und seine Gruppe die Ausgaben auf sich.

So macht der Student rund 50.000 Mark Schulden. Gedanken, wie man das zurückzahlen soll, habe sich keiner der Fluchthelfer gemacht. „Wir dachten immer, der Staat, die Kirchen oder die Wirtschaft würden uns das eines Tages wiedergeben.“ Doch es kommt nichts. „Es ging nie um Menschlichkeit, es ging nie um Menschenrechte. Es ging darum, den Frieden zu wahren. Das ist Politik.“ Der ehemalige Medizinstudent ist noch heute empört. „Auch von Verfassungsschutz und Geheimdienst gab es kein Geld, weil wir mit denen nicht zusammenarbeiten wollten.“So muss auch Veigel anfangen, Geld für seine Fluchthilfe zu verlangen.

Nicht nur sein Portemonnaie wird von seiner Tätigkeit als Fluchthelfer in Mitleidenschaft gezogen. Auch das Studium dehnt sich. Veigel schiebt drei Semester Jura und drei Semester Soziologie in sein Medizinstudium ein, damit er weiter Fluchthilfe betreiben kann – sein Studienbuch ist voll von Stempeln. „Ich habe das alles studiert, um weitermachen zu können. Dafür musste ich ja hier bleiben.“ Seine schwangere Frau bittet ihn schließlich, mit der Fluchthilfe aufzuhören. Im Jahr 1969 ziehen sie nach Hannover.

Ein wenig wehmütig blickt Veigel auf seinen alten Studentenausweis. Als studentischer Held wurde er nicht gefeiert, auch nicht von denjenigen, denen er ein Leben in Freiheit ermöglichte. „Dankbarkeit gegenüber den Fluchthelfern gab es direkt nach der Flucht eher selten.“ Auch habe kaum einer der Flüchtlinge nach einer geglückten Grenzüberquerung seine Hilfe angeboten. Warum? „Bei der Flucht begibt man sich in einen Kokon, in dem man seine Gefühle abschaltet, in dem es nur noch nach einer Ratio geht: ‚Ich darf keinen Fehler machen’.“ Und in dieser Rolle bleibe man auch noch Stunden, Tage nach der Flucht. 2011 bringt Veigel ein Buch heraus, „Wege durch die Mauer“, und nimmt Kontakt zu vielen Geflüchteten auf – 50 Jahre nach der Flucht. „Dann war die Dankbarkeit spürbar.“

Etwa 650 Menschen hat die Gruppe um den ehemaligen FU-Studenten Burkhart Veigel über die Mauer verholfen. Eine bedeutende Zahl. Veigel lächelt, wenn er daran denkt. So vielen Menschen ein Leben in Freiheit ermöglicht zu haben, sei ein schönes Gefühl. „Viele feiern den Fluchttag als zweiten Geburtstag.“ Vor ein paar Monaten war Veigel zum 50. Geburtstag eines Geflüchteten eingeladen. Der Mann wurde 80 Jahre alt.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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