Warum ist da ein Spalt in der Wand?

Ein Mangacomic, der FURIOS zur Rezension zugesandt wurde, erzählt vom Alltag eines 08/15-Studenten. Matthias Bolsinger über ein normales Meisterwerk, das betroffen macht.

GLOSSE FINAL I

Illustration: Robin Kowalewsky

Die alte Ersti-Leier: Kaum neu in der Stadt und schon in der Gewalt der „perversen Hexe von nebenan“. Kein Tag, den man(n) hier als Student verbringen kann, ohne dass sich die sexuell nicht ganz Erfüllte aus dem Nebenzimmer vor Geilheit anfasst, während sie einen durch eine Ritze in der Wand beobachtet. Das jedenfalls offenbart mir das japanische literarische Manga-Meisterwerk „Heimliche Blicke“, das FURIOS vor Wochen zur Rezension zugesandt wurde. Es ist eine Studie über den Alltag männlicher Studenten und voll Berlin. Zitat aus dem Anschreiben des Verlags: „Das könnte für ihre Leserschaft interessant sein.“ Also liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen: Legt das „Das Kapital“ und die „Wendy“ beiseite!

Auch Tatsuhiko hat’s erwischt. Er ist der Hauptcharakter des Mangas. Ein Einzelschicksal, und doch so vertraut, als wäre es das eigene: Tatsuhiko ist neu in Tokio und hat noch keine Ahnung vom Leben als Student. Der erfahrene studentische Leser weiß natürlich, was jetzt kommt: Der unerfahrene Studienanfänger bemerkt im Wohnheim eine Ritze in der Zimmerwand, schaut hindurch und sieht ein Mädchen, das sich selbst befriedigt (Schlachtensee-Bewohner kennen das zur Genüge und können diesen langweiligen Einstieg getrost überblättern).

Beim Versuch, die Dame zur Rede zu stellen, fällt Tatsuhiko ihr unglücklich auf die Brüste (Klassiker nach dem Ersti-/Erasmusparty-Absturz), wovon die Überfallene schnell einen Schnappschuss macht. Sie erpresst ihn mit diesem verfänglichen Bildmaterial und zwingt ihn in ein voyeuristisches Katz- und Mausspiel. So weit der völlig normale erste Uni-Tag. Ganz offensichtlich mangelt es dem Plot an Innovativität. Doch gerade diese geistige Schlichtheit macht seine aufklärerische Potenz aus.

Wollust vs. Studium

Vollkommen normal auch die restlichen Frauen an der Kunstschule: Körper von Zwölfjährigen mit den Brustumfang von Pornostars und riesige Teller-Augen, bei denen selbst die Blicke der Druffis in Berliner Szene-Technoschuppen verblassen. Gilt alles natürlich auch für die Dozentin. Geschickt thematisiert der Manga-Comic die allgegenwärtigen und konstitutiven Fragen männlich sozialisierter Studierender: Wie, zum Teufel, komm ich vor so viel Wollust um mich herum überhaupt noch zum Lernen? Und warum ist da ein Spalt in der Wand?

Eine Botschaft, so lange erwartet, und doch nie ausgesprochen. Mit Recht wendet sich der Verlag an mich und spiegelt mir mit diesem bahnbrechenden Jahrhundert-Opus das „Studentenleben aus einer anderen Perspektive“ (O-Ton aus dem Anschreiben). Es ist das meinige, das unsrige.

Schlachtensee-Bewohnern erzählt der Comic nichts Neues. Geradezu kathartische Wirkung erzielt das Werk hingegen bei fast allen anderen männlichen Lesern. Nicht zu Unrecht erwägt die Liberale Hochschulgruppe ihr Ersti-Heft durch die Gesamtausgabe „Heimliche Blicke, Band 1-13“ zu ersetzen. Unbequeme Reflexionen aus dem ganz normal-feuchten Studierendenleben – „Minima Moralia“ hat einen zeitgemäßen Nachfolger gefunden.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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