Zwischen Tränengas und Regenbogen

Der Istanbuler Gezipark ist in diesem Jahr zu einem Symbol des Widerstands geworden. Tycho Schildbach berichtet, was er in seinem Austauschsemester in der türkischen Metropole alles erlebt.

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Es ist Mitte September und auch nachts noch angenehm warm. Knapp drei Wochen bin ich durch die Türkei gereist, jetzt sitze ich mit Freunden an der Küste des Marmarameers in Istanbul und stoße auf das bevorstehende Semester hier an. Plötzlich verspüren wir ein leichtes Brennen im Hals. Nach und nach breitet es sich im gesamten Nasen- und Rachenbereich aus.

Der Heimweg wird schließlich zu einem widerwärtigen Kampf durch einen unsichtbaren, beißenden Schleier, der noch bis in die Morgenstunden in den Straßen Kadiköys, einem lebendigen Bezirk der asiatischen Stadthälfte, liegen wird. Istanbul begrüßt mich mit seinem abscheulichsten Gesicht.

Die Proteste im Istanbuler Gezipark und auf dem angrenzenden Taksimplatz, die im Mai 2013 ausbrachen, haben formal „nur“ den Erhalt eines kleinen Stadtparks bewirkt. Doch darüber hinaus hinterließen sie eine hochpolitische junge Generation, entstanden aus einer Melange von Aufbruch und Wut.

Nachdem ein 22-Jähriger bei Demonstrationen gegen ein Bauprojekt durch eine Gaskatusche getötet worden sein soll, flammten im September erneut gewaltsame Straßenschlachten auf. Sie konzentrierten sich nicht mehr nur auf den Taksimplatz, sondern erreichten auch die andere Seite des Bosporus. In diesen erneuten Protest bin ich hineingeraten.

Ein alter Konflikt flammt neu auf

Der Zorn der Menschen richtet sich aber weniger gegen einzelne staatliche Kampagnen, als vielmehr den autoritären und repressiven Führungsstil des Ministerpräsidenten Erdogan und die Entwicklung zu einem politischen Islam unter seiner AKP-Regierung. In diesem Punkt führt die Auseinandersetzung eine traditionelle Konfliktlinie zwischen Säkularisten und Islamisten fort, die die Türkei seit osmanischen Zeiten politisch geformt hat.

Kritiker sehen das säkulare Fundament der modernen Türkei, das einst von Staatsgründer Mustafa Kemal etabliert wurde, durch die islamisch-konservative Regierung in Gefahr. Erst kürzlich sorgte Erdogan für großes Unverständnis, als er sich für ein Verbot von Wohngemeinschaften verschiedener Geschlechter aussprach. Zudem wird die Diskriminierung von Kurden und Homosexuellen weitestgehend totgeschwiegen oder verleugnet – gerade da sie gesetzlich nicht legitimiert ist.

Ich habe selber erlebt, wie ein Vortrag an der Universität abrupt mit einer Kaffeepause abgebrochen wurde, nachdem ein Herr aus dem Publikum klarstellen wollte, dass es in der Türkei kein „Kurdenproblem“ gäbe. Obwohl die Debatte über die Gleichstellung Homosexueller längst weite Teile der Gesellschaft und Medienlandschaft erreicht hat, sind unter der regierenden AKP keine Fortschritte zu erwarten, die über rhetorische Floskeln hinausgehen.

Polizei selbst auf dem Campus

Mein Kommilitone Mert – seinen Nachnamen möchte er nicht veröffentlicht sehen – stellt resigniert fest: „Bleibe ich in der Türkei, muss ich entweder meine Identität verleugnen oder andernfalls auf eine akademische Karriere verzichten.“ Seine Zukunft als Wissenschaftler sieht er daher außerhalb der Türkei.

Die Repressionen unter Erdogan führen zu einer durchweg angespannten politischen Lage. Selbst auf dem Campus positionierten sich schon Polizeitrupps. Jedoch entlädt sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung keinesfalls nur in gewaltsamen Protesten. Vielerorts entstehen Bündnisse und Symbole einer alternativen, liberaleren Politik. In meiner Nachbarschaft trifft sich beispielsweise eine wachsende junge Gemeinschaft zu politischen Diskussionen und Projekten.

Zuletzt verwandelten sich Treppen in der ganzen Stadt in riesige regenbogenfarbene Kunstwerke, die sich letztendlich gegen das staatliche Übermalen mit grauer Farbe behaupteten. Auch Selbstbewusstsein und Zuspruch der LGBT-Gemeinde nehmen zu – im letzten Jahr verdreifachten sich die Teilnehmerzahlen an der Gay Pride Parade auf fast 100.000 Teilnehmer.

Insgesamt scheint der Wille zur Veränderung die informelle Opposition in Istanbul zu vereinen. Ob sich dieser Zusammenhalt auch landesweit auf die bisher fragmentierte parlamentarische Opposition überträgt, wird sich spätestens bei den Präsidentschaftswahlen im August 2014 zeigen.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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