Kulturreif: Ben Stillers „Mitty“

Ben wieder stiller – reduziert ulkig und dezidiert bildgewaltig erzählt der Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ die Selbstfindungsgeschichte eines alternden Tagträumers. Von Alfonso Maestro

Vier Kulturgrößen: Bob Marley, Johann Wolfgang von Goethe, Woody Allen und William Shakespeare. Illustration: Luise Schricker

Vier Kulturgrößen: Bob Marley, Johann Wolfgang von Goethe, Woody Allen und William Shakespeare. Illustration: Luise Schricker

In unserer Serie „Kulturreif“ besprechen wir das Neueste aus Literatur, Film, Theater und Musik. Teil 4: Ben Stillers „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“.

Grau in grau, bis oben zugeknöpft sitzt er jeden Morgen vor seinem Dell-Monitor und seinen Kellogs und hält Buch über die Ausgaben des Vortags; das Leben streift an ihm vorüber. Dann geht es zur Arbeit, ironischerweise beim LIFE-Magazin. Dort verwaltet Walter Mitty (Ben Stiller) das Negativ-Archiv, fleißig, fensterlos und umgeben von den schönsten Bildern der Welt. Eine Welt, die von humorlosen Corporate Transition Managern in Slim-Suits und Großstadtbärten beherrscht wird.

Der Schurke (Adam Scott) taucht plötzlich wie in einer bizarren Kafka-Triade mit zwei identischen Sidekicks auf und verkündet, dass die Printausgabe von LIFE eingestellt werden soll. Der letzte Auftrag an Mitty: Negativ Nummer 25 vom legendären Fotoreporter Sean O’Connell (Sean Penn, da geht was) für das allerletzte Heftcover zu entwickeln. Doch es ist weg und Mitty muss den handylosen Draufgänger Sean aufspüren, der am Himalaya oder am Eyjafjallajökull – oder doch in Grönland? – knipsen gegangen ist. Die Quest kann beginnen.

Aber was ist eigentlich los mit diesem Mitty? Seine kardinale Eigenschaft: das Tagträumen. Vom Umfeld beengt, nicht geliebt, nie ein Held gewesen. Schlagfertigkeit? Keine Spur. Klingt bekannt. Aber die Amerikaner haben dafür einen Namen: mittyness, ein von der Nixonrede bis zum Joe-Strummer-Song im kulturellen Lexikon verankerter Begriff, der auf die homonyme Kurzgeschichte von James Thurber aus dem Jahre 1939 zurückgeht und bereits 1947 als neurotisches Pannen-Musical verfilmt wurde.

Fluchtmedium Fantasie

Kognitiv könnte man das Phänomen so beschreiben: Die jeweilige Fluchtwelt wird mehr oder minder bewusst aus dem visuellen Angebot der realen Umgebung zusammengesetzt. Und, Jackpot, wer hat dafür mehr Medien zur Auswahl als der Bildarchivar des LIFE-Magazins? In einer Fügung kosmischer Gerechtigkeit erlebt der Zuschauer wie die erdachten Bilderträume immer mehr zu erlebten Traumbildern werden, während der armselige Protagonist nach und nach aus seinem Kokon schlüpft. Dazu gehört auch die Eroberung der sensiblen Cheryl (Kirsten Wiig), Mittys Kollegin bei LIFE, die der sozial unzulängliche Held zunächst nicht direkt anwirbt, sondern über eHarmony, eine Partner-Onlineagentur mit Niveau. Doch das kann nicht klappen, denn erlebt hat er nichts. Ach, Mitty!

Womit wir beim Kernproblem des Films angekommen wären, bei dem, was der französische Denker Guy Debord als „die Gesellschaft des Spektakels“ formuliert: Die Realität wird überschattet von einer inflationären werbungsartigen Scheinwelt aus Erlebtem und Ersehntem und findet ihre Kulmination in unseren Profilen bei Facebook und Co. Ob man seine dort vorgeführten Erlebnistrophäen konstruiert oder hart erarbeitet hat, es läuft auf das gleiche hinaus: Das Erlebnis wird von seinem Marktwert vulgarisiert.

Und damit zur Gurufunktion vom gesuchten Fotoreporter Sean, dem Mitty nur begegnen kann, indem er über sich hinauswächst und einem chilenischen Puffgänger das einzige Fahrrad Islands stiehlt. Seans radikale Lehrstunde: Nicht abdrücken! Die allerschönsten Schnappschüsse für sich behalten. Widerstehen, sterblich sich hingeben und den Finger ganz langsam wieder vom Auslöser gleiten lassen. Eine radikale Haltung – die Demut gegenüber wahrer Schönheit.

Das erstaunliche Leben des Walter Mitty
Regie: Ben Stiller
Mit: Ben Stiller, Sean Penn, Kirsten Wiig
Kinostart am 1. Januar 2014

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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