Willkommen in der Textwüste

Mit einer Adaption von Roberto Bolaños Meisterwerk „2666“ wendet sich die Schaubühne einem der herausforderndsten Romane der Gegenwart zu. Absurdistische Depressionen in der Grenzstadthölle. Von Alfonso Maestro

Vier Kulturgrößen: Bob Marley, Johann Wolfgang von Goethe, Woody Allen und William Shakespeare. Illustration: Luise Schricker

In unserer Serie Kulturreif berichten wir vom neuesten aus Musik, Literatur, Film und Theater. Illustration: Luise Schricker

Der 2003 verstorbene Roberto Bolaño, dem mit dem Roman „Die wilden Detektive“ angeblich der große mexikanische Gegenwartsroman gelang, was auch immer das heißt, versuchte sich in „2666“ am totalen Roman – einem Text, der sich allem stellt, in einem so scharfsinnigen wie chaotischen Duktus. Das Epos besteht aus fünf lose zusammenhängenden Teilen um frustrierte Germanisten und schweinische Kulturschaffende („Der Teil der Kritiker“), alleinerziehende Väter und Irrenhaus-Onanisten („Der Teil von Amalfitano“), Roberto-Rodriguez-Fans und schwarze Panther („Der Teil von Fate“), um eine verwitwete Verlegerin, Nazis und das Pferd im Mann („Der Teil von Archimboldi“), um Fabrikarbeiterinnen, Nebenjob-Huren und viele, viele schäbige Cops („Der Teil der Morde“).

Vögeln und Trinken

Damit erreicht das bolañile Werk die epischen Ausmaße einer sixtinischen Kapelle aus Nord-, Süd-, Ost- und Westwand plus einem über alles wachenden Deckenfresko, eben jener monumentale „Teil der Morde“ in der US-Grenzstadt Santa Teresa, alias Ciudad Juárez, der laut UN-Bericht zwischen 1993 und 2012 1234 Frauenmorde forderte. Der Essayist Charles Bowden beschreibt die Stadt mit der höchsten Mordquote der Welt als jenen Ort, wo die Menschen träumen und vögeln und trinken und singen können, aber hoffen könne hier niemand. Hier ist die Müllhalde des Kapitalismus angesiedelt und hier gedenkt Bolaño aller unschuldigen Opfer des sogenannten Femicidio – wie ein Allerheiligenfest im Pandämonium. So strickt 2666 auf über 1000 Seiten ein subtiles Gewebe horrender Neo-Noir-Stoffe, oder vielmehr die philosophische Farce einer Detektivgeschichte. Wie eine nicht enden wollende Nachtfahrt auf der Landstraße erschöpft es seine Leser, still und ewig. Eine einfache Vorlage? Eher ein Laufpass ins Unbekannte.

F.I.N.D. in der mexikanischen Textwüste

Angesichts dieser kapriziösen Vorlage ist die entschieden epische Ausrichtung des katalanischen Regisseurs Àlex Rigola (Teatre Lliure Barcelona, Biennale Venedig) eine heikle (nicht nur wegen der Länge von fünf Stunden), aber dennoch weise Wahl, auch wenn das Eröffnungsstück des 14. F.I.N.D. Festivals dafür ein durchwachsenes Presseecho erntet. Bis auf den „Teil von Amalfitano“ – sicher der filmischste der fünf Parts – bemüht sich Rigolas „2666“ nicht großartig um Spielsituationen, sondern eher um Texturen und Stimmungen, deren Essenz es direkt aus dem Text schöpft. Das Dramatische fehlt von Grund auf und so wirkt die Vorstellung ein bisschen wie eine stückgewordene Gruppentherapie vernarbter Bolaño-Veteranen. Selbst für Buchkenner kann dies zuweilen ermattend wirken, doch in der Ruhe und Zurückhaltung liegt auch die Kraft des Stückes.

Das Ensemble glänzt gerade in jenen Augenblicken der größten Bedachtsamkeit, allen voran Jule Böwe als Hamburger Verlegerswitwe Anna Bubis – die Stimme gebrochen wie ein Prisma aus Kind und Dame und Hure – und Urs Jucker als depressiver Philosoph Amalfitano – der Verwirrung schönste Inkarnation. Nach der Vorstellung stellt sich ein betäubtes Erwachen ein und die Ahnung eines gerade erlebten Alptraums, plastisch genug um ihn noch zu fassen, blass genug um ihn zu vergessen. Wovon das Buch auch handelt: Unsere Fähigkeit den Alptraum zu vergessen, inmitten dessen wir uns befinden.

2666
Schaubühne am Lehniner Platz
von Roberto Bolaño
Regie: Àlex Rigola
Premiere am 3. April 2014
Dauer: 270 Minuten

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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