Auch die »schönste Nebensache der Welt« kann der Wissenschaft nicht entkommen. Forscherinnen und Forscher der FU inspizieren das Spannungsfeld zwischen Fußballfans und Emotionen, Nationalismus und Kommerz. Von Matthias Bolsinger
Dieser Artikel ist ursprünglich im Sommersemester 2012 in Ausgabe 08 der FURIOS erschienen. Anlässlich der WM 2014 haben wir ihn wieder für euch hervorgeholt.
Schon bemerkt? Es ist Fußballzeit! Eine Zeit, in der von scheinbar unwichtigen Dingen wie Michael Ballacks Wade das Wohl der Nation abhängen kann. Offenbar hat das ganze Land nur darauf gewartet, sich wieder dem kollektiven Rausch hinzugeben. Alles dreht sich um das runde Leder, alles fiebert, alles ist »schwarz-rot-geil«. Doch Menschenmassen, Emotionen, nationales Wir-Gefühl – all das ruft in Deutschland schnell auch Gewissensbisse auf den Plan.
Forscherinnen und Forscher der FU wollen klären, ob diese Gewissensbisse tatsächlich gerechtfertigt sind. Wie fließend ist der Übergang von positiven kollektiven Emotionen zum Nationalismus? Um das herauszufinden, arbeiten im Exzellenzcluster »Languages of Emotions« Soziologen und Psychologen zusammen. Hinter dem Namen »Projekt 408« verbirgt sich die Untersuchung von »Kollektiven Emotionen und nationaler Identifikation am Beispiel der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2010«. Vor und nach dem Großereignis in Südafrika legten die Forscher Probanden einen Fragenkatalog mit Bildern vor. Unter anderem zeigten sie ihnen das Brandenburger Tor, führende Politiker und die deutsche Flagge. Die Versuchspersonen mussten sie bewerten – positiv oder negativ.
Um den Bezug zu den kollektiv erlebten Emotionen herzustellen, erfragten die Wissenschaftler außerdem, wie sehr die Person subjektiv an der Weltmeisterschaft Anteil genommen hatte. Die größte Steigerung in der positiven Bewertung konnte – na klar – ein Bild der Nationalmannschaft für sich verbuchen. Durch die Befragung konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass kollektive Emotionen, Fußball und das Konstrukt »Nation« eng miteinander verknüpft sind. Die These des französischen Soziologen Emile Durkheim, dass kollektive Rituale den Zusammenhalt in gesellschaftlichen Gruppen stärken, scheint bestätigt.
Das allein wäre nicht weiter bedenklich. Doch die Forscherinnen und Forscher fanden noch mehr heraus: einen signifikanten Anstieg der Feindlichkeit gegenüber fremden Gruppen. Ablehnung gegen Immigranten ohne deutsche Vorfahren, Behinderte oder Homosexuelle stehen zwar nicht in direkt nachweisbarem Zusammenhang mit der Fußballbegeisterung. Doch verändert der athletische und heterosexuelle Diskurs während der Meisterschaften anscheinend das Klima in der ganzen Gesellschaft, nicht nur in der Gruppe der Fußballfans. Der medialen Bilderflut von gut gebauten, heterosexuellen und deutschen Männern kann sich niemand entziehen.
Medien konstruieren Bilder von Nation und Fremdheit
Wie wahsinnig der Wahnsinn wirklich ist und werden darf, definieren die Medien. Sven Ismer untersucht für seine Dissertation die Rolle von Emotionen für den Nationalismus. Dafür erforscht er die Fernsehberichterstattung zu Fußball-Großereignissen. Er konzentriert sich darauf, wie Delling, Netzer und Konsorten, sowie die kurzen Einspielbeiträge während der letzten 30 Minuten vor dem Anpfiff ganz bestimmte Bilder von Nation und Fremdheit, von »uns« und den »Anderen«, konstruieren.
Als die deutsche Nationalmannschaft im Jahr 1974 den Weltmeistertitel errang, herrschte noch Skepsis gegenüber dem Konzept der Nation, die Berichterstattung stand dem Geschehen betont nüchtern gegenüber. Ganz anders heute: Franz Beckenbauer wird zur deutschen Volksseele schlechthin stilisiert; seine zeitweiligen Fehltritte machen ihn da nur noch dufter. Diego Maradona hingegen wird mit Kommunismus, Gewalt und Drogen assoziiert und seine Spieler mit ihren spanischen Spitznamen vorgestellt, die an Tierbezeichnungen erinnern. Thematisieren die Medien die Herkunft Lukas Podolskis und Miroslav Kloses, wecken sie mit ihrer Bildsprache Assoziationen an ein ländliches, rückständiges Polen. Und Günther Netzer faselt in seinen »Expertenanalysen« von »deutschen Tugenden«, die jeder nötig habe – disziplinierte, kämpferische deutsche Männer also treffen auf launisch-verspielte Diven aus Südamerika. Es ist alles so einfach.
Die skeptische Distanz zur Nation, für die die Deutschen oft bestaunt oder auch belächelt werden, ist völlig aufgehoben. Medien kommentieren nicht mehr den kollektiven Rausch, sie sind ein aktiver Teil davon und jubeln und weinen kräftig mit. »Natürlich müssen Medien emotionalisieren«, meint Sven Ismer, das gehöre zum Geschäftsmodell: Emotionen machen Quote, Quote macht Profit. »Doch heutzutage sehen wir uns einer gefährlichen Allianz gegenüber: Im Fernsehen schüttelt der Nationalismus dem Kommerz die Hand.« Kollektive Emotionen spielen dabei eine effektive Mittlerrolle. Sie machen das Erlebte authentisch. Was gefühlt wird, scheint wahr. Und eben darin liegt die Gefahr. Der leidenschaftliche Ausstieg aus der alltäglichen Routine ist nur scheinbar ein Ausnahmezustand. Nationalistische Ideologie wird über Emotionen zum gelebten Alltag – das Wir und die Anderen werden ganz normale, quasi-natürliche Kategorien.
»Fan sein ist eine Erlebnisstrategie«
Der Fußball ist nicht mehr unschuldig. Es scheint, als verhedderten sich seine Fans allzu leicht in ideologische und kommerzielle Fallstricke, um dann in einem irrationalen Rausch den falschen Zwecken zu huldigen. Fans als verrückte, dumpfe Masse, lenk- und verwertbar? Jochen Roose hat ein positiveres Fanbild. Der bekennende Fußballfan ist Professor am Institut für Soziologie der FU und veröffentlichte die Ergebnisse seiner Fanforschung in einem Buch. »Fan sein ist eine Erlebnisstrategie«, so Roose. Das klingt vergleichsweise nüchtern, betrachtet man andere soziologische Perspektiven, die die Fans praktisch mehr mit einem Bein in der Klapse als mit beiden Beinen im Leben stehend sehen. Roose liefert ein Gegenbild zum Irren aus der Fankurve, der mit Vernunft recht wenig zu tun haben scheint. Er betrachtet Fantum als »fokussierte Freizeitbeschäftigung«. Ihr haftet nichts Pathologisches oder »Fan-atisches« an. Im Gegenteil: Sie sei rational, indem sie dem Fan intensive Erlebnisse beschere, die zum Leben zweifelsohne dazugehören. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er braucht Gefühlsgipfel.
Rooses soziologischer Sammelband liefert überraschende Einsichten, die ein durchaus positives Licht auf das Fantum werden. So scheint der Fußball auf den ersten Blick nicht gerade dazu berufen, die Geschlechterrollen aus den eingerosteten Angeln zu heben. Doch betrachtet man einmal aus der Nähe, was in den Fankurven und vor den Großleinwänden an Homophobie und Sexismus wirklich passiert, wird deutlich, dass die Rollen doch nicht so starr verteilt sind, wie es zunächst scheint: Wo sonst darf Mann in der Öffentlichkeit seinen Nebenmann herzen? Wo darf er Rotz und Wasser heulen, ohne dass seine Männlichkeit in Frage steht? Und ebenso wichtig: Auch Frau darf auf den Rängen aus dem Rahmen fallen und genau das machen, was ihr außerhalb des Stadions als »unweiblich« angekreidet würde: Fankutten tragen, pöbeln, saufen.
Was bleibt, ist die gefährliche Nähe zum übersteigerten Nationalbewusstsein. Zwar sei die Dauer der intensiven Emotionen nur kurz – nach drei Tagen sei das übersteigerte Nationalbewusstsein wieder abgeschwollen, meint Roose. Dennoch: Die Forschungsergebnisse legen einen Zusammenhang zwischen Fußball, Emotionen und Nationalismus nahe.
Wie also umgehen mit der Fußball-EM? Fernbleiben, um dem Nationalismus nicht den roten Teppich auszurollen? Fußball schauen ohne Leidenschaft? Für eingefleischte Fans ist das keine Option. Bleibt wohl nur der reflektierte Umgang mit dem Massenphänomen. Wie auch immer das möglich sein soll, wenn um einen herum alle wieder schwarz-rot-geil sind.
Illustration (Hintergrund) von Fokea Borchers.