„Die jungen Menschen riskieren nichts“

Lulu studiert Psychologie in Dublin, macht ein Erasmus-Jahr an der FU und ist 61 Jahre alt. Wenn ihr etwas im Leben nicht passte, nahm sie Reißaus. Sie lebte in den USA, Mexiko, Ungarn, Frankreich und Deutschland. Matthias Bolsinger traf sie auf eine Tasse Tee in ihrer Wohnung in Britz.

Interview_Lulu

Lulu heißt eigentlich Louise Sinnott. Hier sitzt sie auf dem Bett ihrer Britzer WG. Foto: Christoph Spiegel

FURIOS: Lulu, dein Erasmus-Semester kommt reichlich spät. Warum jetzt noch ein Psychologie-Studium? Und warum Berlin?

Lulu: In meinem Job als Krankenpflegerin hat man mir das zur Weiterbildung angeboten. Außerdem war jeder Job, den ich hatte, ein Stück weit Psychologie. Selbst die Arbeit im „Hard Rock Café“ in San Francisco. Ich beschäftige mich gerne mit dem Menschen und seinen Motivationen. Meine Pläne, nach Berkeley in den USA zu gehen, haben sich zerschlagen – ich hätte mir das nicht leisten können. Auf Empfehlung von drei Studierenden, die schon in Berlin gelebt haben, bin ich hierher gekommen. Nur zehn von hundert Studierenden aus meinem Jahrgang haben den Schritt ins Ausland gewagt. Als einzige bin ich in ein Land gegangen, in dem nicht Englisch gesprochen wird.

In deinen ersten 20 Lebensjahren hast du außer deiner irischen Heimat nichts gesehen. Danach hast du in vielen verschiedenen Ländern gelebt. Was hat den Anstoß dazu gegeben?

Am „Abbey Theatre“ hatte ich nach der Schule eine Ausbildung zur Schauspielerin gemacht. Ich hatte aber schnell genug davon, den Kollegen nach den Aufführungen ständig den Bauch pinseln zu müssen und machte in Südirland eine Ausbildung zur Köchin. Danach war ich drei Jahre in Deutschland. Dort habe ich zunächst in einem Hotel, dann als Kellnerin im Schwarzwald gearbeitet. Damals war ich verheiratet, habe mich aber nach meiner Rückkehr nach Irland von meinem Ehemann getrennt. Das war eine Art Schlüsselmoment. Ich merkte: Es tut mir gut, Dinge zu beenden, mit denen ich nicht zufrieden bin.

Hat dich die Trennung aus der Bahn geworfen?

Nein, im Gegenteil: Ich war so glücklich, endlich wieder allein zu sein! Eigentlich wollte ich einige Jahre Single bleiben. Aber dann verliebte ich mich in Barry, der bis heute mein Partner ist. Liebe auf den ersten Blick war das nicht, aber wir wussten: Wir wollen zusammen aus unserem gewohnten Umfeld ausbrechen und die Welt sehen. Nach nur einem Jahr sind wir nach San Francisco, ohne Papiere. Wir wollten nach Peru zu den Revolutionären vom „Sendero Luminoso“ reisen. Das hielten wir damals für eine aufregende Idee.

Hat das geklappt?

Nein, zehn Jahre pendelten wir zwischen Mexico und San Francisco, machten auf Yucatán Filme von Touristen, die wir bei deren Tauchausflügen begleiteten. Anschließend verkauften wir ihnen die Aufnahmen. Auf den ersten Blick war das ein Traumjob. Doch die meiste Zeit mussten wir uns mit lauten, unfreundlichen US-Amerikanern auseinandersetzen. Als dann auch noch einer unserer Freunde ertrunken ist, haben wir damit aufgehört und sind zurück nach Irland. Im Nachhinein betrachtet, waren wir einfach zu jung, als wir damals aufbrachen.

„Zu jung“ mit knapp 30 Jahren? Heutzutage wollen viele Menschen in diesem Alter schon ihr Leben in eine feste Bahn gebracht haben.

So ein Stillstand ist falsch. Ich glaube, meine Eltern sind irgendwann gestorben, weil sie sich mit ihrem Leben abgefunden haben wie es war, und darüber die Lebensenergie verloren haben. Aber man muss immer bereit sein, sich zu ändern. Das gilt auch für eine Ehe: Wenn die Beziehung langweilig und enttäuschend wird, muss man etwas tun. Viele Menschen scheuen aber die Veränderung. Dabei lebt es sich viel einfacher, wenn man den Wandel umarmt, statt ihm zu widerstehen. Ich selbst musste das auch lernen – in meiner ersten Ehe bin ich zu lange geblieben.

Haben die Studierenden hier diesen Mut zum Wandel?

Die jungen Menschen heutzutage sind sehr verantwortungsbewusst. Sie haben Angst, kein Geld zu haben, wollen dies und das besitzen, riskieren nichts. Sie wagen nicht den Schritt ins Dunkle, in dem sie nicht wissen, was sie erwartet. Dabei ist das jederzeit mög- lich und bereichert das Leben. Mit 60 Jahren mit rudimentären Deutschkenntnissen nach Berlin zu ziehen ist natürlich ein Risiko. Ich hatte keine Ahnung, ob ich das Jahr hier überhaupt überstehen würde. Als ich dann im letzten Semester aufgrund meiner Sprachprobleme eine Prüfung nicht bestanden habe, hat meine Tochter mir ein T-Shirt mit einem Zitat von Samuel Beckett gedruckt: „Ever Tried. Ever Failed. No Matter. Fail Again. Fail Better.“

Immer wieder neu und besser scheitern – kann das wirklich jeder?

Mein Leben möchte sicher nicht jeder leben. Manche würde diese ständige Unsicherheit krank machen. Dabei war das alles nicht extrem, nicht immer „Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll“. Ich habe immer gearbeitet. Aber ich habe kaum an so etwas wie meine angeblichen „Pflichten« gedacht. Und genau das hat mein Leben zu einem fantastischen „self-made patchwork“ gemacht.

Wie kommst du an bei deinen Mitstudierenden? Wirst du als ältere Frau ignoriert?

Im Gegensatz zu Irland hatte ich hier schnell Anschluss bei den jüngeren Studierenden. Anfangs hielt man mich als ältere Frau für eine Dozentin. Als sie aber bemerkten, dass ich eine Austauschstudentin bin, wollten mich die jungen Leute kennen lernen. Die Studierenden hier sind sehr offen, das ist wunderbar. Ich hatte damit gerechnet, nur mit wenigen, alten Menschen regelmäßigen Umgang zu haben – jetzt habe ich in Berlin ein ausgeprägteres Sozialleben als in Dublin.

Dein Mann Barry studiert ebenfalls, allerdings in Irland. Wie kommt ihr nach so vielen gemeinsamen Jahren mit der Trennung klar?

Wir sehen uns sehr selten. Ich habe ihm auch zu Beginn klar gemacht, dass ich während meines Auslandsjahres nicht nach Irland kommen möchte. Ich will mich ganz auf Berlin einlassen. Einige Male in der Woche skypen wir. Das ist meine erste richtige Fernbeziehung.

Junge Menschen haben davor häufig Angst. Wie geht es dir damit? Kommt eine langjährige Beziehung mit dieser Situation besser zurecht?

Ich glaube nicht. Auch für uns ist diese Fernbeziehung ein Risiko. Barry studiert in Irland, an seiner Uni lernt er natürlich andere Frauen kennen – aber er weiß: Hier gibt es auch viele Frauen und Männer (lacht).

Hast du Pläne für die weitere Zukunft?

Barry und ich haben jetzt ein Haus in Irland. Das ist für uns wie eine Vogelstange, zu der wir immer zurückkehren können. Als Rentner werden wir noch freier sein zu tun, was wir wollen. Vielleicht werde ich als Psychotherapeutin für „Ärzte ohne Grenzen“ arbeiten. Einmal nichts tun, einmal nicht zu neuen Ufern aufbrechen – das kann ich nicht. Bin ich vielleicht doch verrückt? Ich weiß nicht.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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