Ohne Freiheit keine Sicherheit

Massiver staatlicher Eingriff in die Netzfreiheit um Sicherheit zu gewährleisten? Netzpolitisches Bullshit-Bingo, findet Saskia Sell, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik.

Illustration: Christoph Spiegel

Illustration: Christoph Spiegel

In unserem Heft hat Sandro Gaycken, ehemaliger CCC-Aktivist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Informatik, ein demokratisches Internet gefordert, in das der Staat eingreift, um die Sicherheit seiner Bürger sicher zu stellen. Saskia Sell, FU-Nachwuchswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Kommunikationsfreiheit, die oft CCC-nahe Positionen vertritt, hat dazu eine etwas andere Meinung. Für FURIOS hat sie ein Statement zum Interview mit Gaycken verfasst.

Sandro Gaycken ist also „naiv ins Internet gestolpert“ und propagiert nun mehr staatliche Regulierung unseres Kommunikationsraumes? Nun ja, auch ich war vor einigen Jahren naiv. Naiv insofern, als dass ich als Studentin am medien-, kultur- und kommunikationswissenschaftlichen Institut der NYU meiner Professorin Gabriella Coleman vehement widersprach, als sie ihre pessimistische Einschätzung mit uns diskutierte, die Freiheit des grenzübergreifenden Kommunikationsraumes Internet würde in maximal zehn Jahren durch einen Backlash nationalstaatlicher Enclosure-Movements massiv eingeschränkt. Dieser Gedanke der Re-Nationalisierung erschien mir als extrem abwegig.

Das war 2007 und damit wiederum gut zehn Jahre nachdem ich mich als Teenager mit dem elterlichen Modem ins Netz eingewählt und zum ersten Mal bis tief in die Nacht mit einer jungen tschechischen Englischlehrerin gechattet hatte. Die durch Geographie- und Politikunterricht sorgfältig gezogenen Grenzen in meinem Weltbild wurden nachhaltig relativiert und ich entwickelte eine anhaltende Euphorie für grenzüberschreitenden Ideen- und Gedankenaustausch. Vor diesem Hintergrund zu hören, dass die neuen kommunikationstechnologischen Errungenschaften in der Offenheit ihrer Möglichkeitsräume durch nachträgliche Grenzziehungen eingeschränkt würden, erschien mir nicht nur unwahrscheinlich, es ging mir auch richtig gegen den Strich.

Heute beobachten wir genau diese von Coleman dargestellte Entwicklung. Einige der alten Netzpioniere sind sogar zu ihren lautesten Befürwortern geworden. Freiheit und Sicherheit werden so lange parolenhaft als Gegensatzpaar konstruiert, bis wir alle glauben, sie würden sich tatsächlich gegenseitig ausschließen. Und das ohne zu berücksichtigen, dass es ohne Freiheit keine Sicherheit geben kann, was schon Benjamin Franklin wusste. Wer sich für den Erhalt kommunikativer (!) Freiheiten im Netz einsetzt, wird als Anarchist verschrien, als jemand, der auch befürworten würde, „dass man einfach rausgehen und jemanden abknallen“ kann. Und es wird wiederholt konstatiert, dass Freiheit nur durch Einschränkungen realisiert werden kann. Der Philosoph Isaiah Berlin nennt das Inversion: die rhetorische Umkehrung des gesellschaftlichen Grundwertes Freiheit in sein Gegenteil. Das ist nicht ungefährlich. Es bildet den argumentativen Nährboden für totalitäre Systeme.

Die überzogene Diskussion um die Facebook-AGBs und Privacy Einstellungen sind hierzulande nur ein Symptom eines übergeordneten Aushandlungsprozesses um kommunikative Freiheiten und staatliche Eingriffe in selbige. Ein weiterer Schritt in Richtung schärferer Restriktion ist die Debatte um das sogenannte „Recht auf Vergessen“, das kürzlich gegenüber Google erzwungen wurde. Wer Mist gebaut hat, der öffentlich gemacht wurde, kann künftig also aktiv Geschichtsrevisionismus betreiben – na, schönen Dank auch! Was ist mit dem Recht auf Erinnerung? Nachfolgegenerationen haben ein Recht auf ihre Geschichte – auch und zuallererst auf ihre Mikrogeschichte, in all ihren menschlichen Facetten. Wir haben die einmalige Chance ein transnationales kulturhistorisches Archiv aufzubauen und was passiert? Wir wollen gelöscht werden! Womöglich, weil uns suggeriert wird, Partyfotos aus der Jugend seien ja schon irgendwie peinlich und würden der Karriere schaden. Neben der Leier von der vermeintlich unerfüllten Utopie des freien Internets ein weiteres Kästchen im netzpolitischen Bullshit-Bingo.

Hier war die Populärkultur der 90er Jahre ihrer Geschichte voraus, was der Soundtrack zu meinen frühen Netzerfahrungen passender wiederspiegelt, als ich es damals gedacht hätte. Rage Against The Machine haben damals mit „Testify“ die klassischen Orwell’schen Wahrheiten wiederbelebt – und ich erlaube mir als ehemalige Musikredakteurin dieses kurze Statement mit einem Songzitat zu beenden: „Who controls the past now, controls the future. Who controls the present now, controls the past“. Denkt mal drüber nach.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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