Bibliotheken im Test: Die Schrullige

Für Studierende unnütz, aber Kult im Kiez: Die Amerika-Gedenkbibliothek ist die schnoddrig-charmante unter Berlins Bibliotheken. Von Matthias Bolsinger.

Am Bluecherplatz 1, Kreuzberg beheimatet: Die Amerika-Gedenk-Bibliothek. Quelle: Wikimedia Commons

Am Bluecherplatz 1, Kreuzberg beheimatet: Die Amerika-Gedenk-Bibliothek. Quelle: Wikimedia Commons

Sie war schon immer mehr als nur ein schnöder Ort für schnöde Bücher – und feiert in diesem Jahr Jubiläum: 1945, vor genau 60 Jahren, wurde die Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) am Südufer des Landwehrkanals eröffnet. Seither sind Unzählige ihrem eigenartigen Charme verfallen.

Nachdem Westberlin die Blockade durch die Sowjetunion zwischen 1948 und 1949 überstanden hatte, schenkte die Bevölkerung der Vereinigten Staaten der Stadt eine Bibliothek. Sie war nicht nur Mahnmal für Meinungs-, sondern auch für Bildungsfreiheit. Die AGB wurde als „public library“ konzipiert, als Ort, der den Bildungshunger der Allgemeinheit stillen sollte.

Für alle und niemanden

Dieser Geist weht noch immer durch die Flure der AGB. Für Studierende macht sie das erst einmal nutzlos. Denn hier findet man zwar von allem etwas aber eigentlich nie das, was man gerade braucht. Eine Fachbibliothek kann die AGB trotz eines Bestands, in dem sogar vereinzelte Fachzeitschriften vorkommen, nicht ersetzen. Und dennoch: Sie zieht auch Studierende an. Warum?

Vielleicht weil sie wie der Kreuzberger Kiez ist, in dem sie steht – laut, wuselig, bunt – und wie eine Lieblingsoma: alt und auf charmante Weise schrullig. Wer hierher zum Arbeiten kommt, findet nicht etwa die sterile Atmosphäre und Totenstille einer Unibibliothek vor, in der nur Studierende lesen und schreiben. Hier trifft man auf kauzige Rentner, die aktuelle Zeitungen durchforsten, hibbelige Kinder auf der Suche nach dem nächsten Buch, unmotivierte Schülerinnen, die sich über ihre Hausaufgaben beugen oder entspannte Obdachlose, die im Winter im warmen Foyer ausharren.

Für Zeitgenossen, die Ruhe zum Arbeiten brauchen, ist die AGB daher der falsche Ort. Außerdem sind die türkisgrünen, alten Arbeitstische oft wild über die Teppichbodengänge verteilt, häufig besetzt und nur selten in der Nähe einer der wenigen Steckdosen. Ein weiterer Wermutstropfen: Der nächste gute Kaffee, er ist geradezu unendlich weit weg.

Gezählte Tage?

Die Automatenbrühe, die man in der Bibliothek selbst bekommen könnte, sollte man tunlichst vermeiden und lieber ein Kiezcafé aufsuchen. Auf dem Weg lockt das kulinarische Angebot. Klar, die bekannte Fressmeile Mehringdamm ist nicht weit entfernt. Wer’s aber lieber kultig mag, geht nur wenige Schritte vom Haupteingang entfernt zu Frau Becker. Deren Imbiss steht dort schon seit über 40 Jahren und serviert Wurst und Pommes zu günstigen Preisen.

Frau Beckers Imbiss muss in Zukunft wohl einer Straßenverbreiterung weichen. Und auch die Tage der guten, alten AGB könnten gezählt sein. Weil mit dem erfolgreichen Volksentscheid zum Tempelhofer Feld die Pläne für die Berliner Landesbibliothek auf dem ehemaligen Flughafengelände gestorben sind, sucht der Senat nach Ersatz – und denkt an eine Erweiterung der AGB.

Bis dahin versprüht das blockige Gebäude aber weiterhin den Charme des Für-alle-da-Seins. Wer also Abwechslung zu den vergleichsweise schnöden Uni-Bibliotheken sucht, eine gemütliche Kaffeepause in Kreuzberger Atmosphäre dem schnellen Mensa-Kaffee vorzieht und nach getaner Arbeit noch im DVD- oder Kochbuch-Bestand stöbern möchte, ist hier genau richtig.

Amerika-Gedenkbibliothek

Adresse: Blücherplatz 1, 10963 Berlin

Fachrichtungen: alles und nichts

Top: anregende Betriebsamkeit; morbider Charme; ausreichend Schließfächer, die ohne Geld oder Mensa-Karte funktionieren; Bücher können mit Ausweis des Verbunds der Öffentlichken Bibliotheken Berlins vier Wochen oder länger ausgeliehen werden

Flop: kein guter Kaffee in Griffweite, nicht ausreichend Arbeitsplätze und Steckdosen

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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