Der Herr der Bratschen

Wenn der normale Unibetrieb endet, werden die Räume des Henry-Ford-Baus zu Konzertsälen für etwa 80 Studenten von FU und TU. Das Sinfonieorchester arbeitet das ganze Semester lang auf einen Abend hin. Von Carlotta Voß.

Illustration: Cristina Estanislao Molina.

Materia statt Mozart, Beyoncé statt Beethoven – klassische Musik ist bei der Generation der unter 30-Jährigen angeblich nicht mehr gefragt. Kulturpessimisten beklagen seit Jahren die Dominanz des Pop und den Niedergang der Klassik.

Doch wer montagabends dem Geschichtsstudenten Benjamin Spendrin begegnet, muss an diesem Abgesang zweifeln. Mit der Bratsche in der Hand eilt er durch das Foyer des Henry-Ford Baus zum Hörsaal B, vorbei an einer Gruppe Mädchen mit Geigenkoffern, vorbei an zwei Klarinettisten. Er darf nicht zu spät kommen, schließlich ist heute Vorspieltag.

Nach Wochen der Proben wird das Sinfonieorchester des Collegium Musicum von FU und TU endlich entscheiden, wer im kommenden Semester dem Ensemble neu beitreten darf. Benjamin ist für die Auswahl der Bratschen zuständig. Gerade noch pünktlich nimmt er in der ersten Reihe des Hörsaals Platz, kramt Noten aus seiner Tasche. Auf der Bühne steht Marcel vor einer Tafel mit Sinuskurven und stimmt seine Bratsche. Zwei Wochen hatte der Politikstudent Zeit, um sich auf das Vorspiel vorzubereiten. Er lässt den Bogen probehalber über die Saiten gleiten, rückt den Notenständer zurecht und beginnt zu spielen. Seine Töne sind bedächtig und ein wenig melancholisch: Brahms 2. Sinfonie.

Benjamins Augen folgen seinen Bewegungen aufmerksam. Klassische Musik gehört zu seinem Leben, seit er fünf Jahre alt ist. Damals begann der FU-Student, Geige zu spielen. Nach einem Lehrerwechsel entschied er sich dann aber für die Bratsche. Heute spielt Benjamin in drei verschiedenen Ensembles: Im Sinfonieorchester des Collegium Musicum, der Jungen Sinfonie Berlin und einer Barockband. Barockmusik, findet er, würde gegenüber der Klassik und Romantik viel zu sehr unterschätzt. Er schwärmt von den Komponisten Bach, Purcell und Vivaldi und der Intimität barocker Kammermusikensembles, die meist ohne Dirigenten spielen: „Bei Barockmusik kommt es sehr auf die eigene Musikalität an. Man muss sie wirklich verstehen und dafür auch viel über ihre Entstehungsgeschichte wissen.“

An diesem Tag fällt Benjamin die Entscheidung leicht: Marcel wird in das Ensemble aufgenommen. Ihn eingeschlossen dürfen nun neun Bratschen als Teil des Sinfonieorchesters spielen. Anderthalb Stunden Zeit haben sie, um gemeinsam ihre Stimme zu proben, dann kommt das gesamte Ensemble zusammen – etwa 80 Musiker, fast alle Studenten. Am Ende jedes Semesters geben sie ihr Abschlusskonzert in der Philharmonie am Potsdamer Platz.

Das Interesse an dieser Veranstaltung ist groß. Die Musiker spielen meist vor ausverkauften Sälen. Kulturpessimisten, die ein Aussterben der klassischen Musik verkünden, werden von dieser Nachfrage Lügen gestraft. Auch Benjamin findet nicht, dass die Klassik in Gefahr ist. Schon gar nicht, dass sie mit dem Konsum von Popmusik unvereinbar sei – wer Geige studiere, könne doch trotzdem Hip Hop hören. Und außerdem – Benjamin schmunzelt – beruhten die meisten Popsongs ohnehin auf Harmonien aus der Barockmusik.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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