Vom Hunger aufgefressen

Lena studiert an der FU, isst aber kein Mensaessen. Lena ist magersüchtig. Vor Anonymität und Leistungsdruck an der Uni fürchtet sie sich daher besonders. Die Geschichte eines Kampfes mit sich selbst. Von Friederike Deichsler

Illustration: die greta
Illustration: die greta

Mit 13 hört Lena auf zu essen. Nach und nach streicht sie immer mehr Lebensmittel von ihrem Speiseplan. Alles, was zu viel Fett und Zucker enthält, landet nicht mehr auf ihrem Teller. Zunächst findet sie das noch harmlos – ein bisschen abnehmen für die Bikinifigur eben. Doch das ist es nicht. Sie wird magersüchtig.

Heute ist Lena, die eigentlich anders heißt, 22 Jahre alt und studiert an der Freien Universität. Sie möchte Grundschullehrerin werden. Inzwischen kann sie offen über ihre Krankheit sprechen. Wenn sie das tut, zeigen die meisten Menschen zwar Verständnis – so richtig nachvollziehen kann ihr Verhalten aber kaum einer. Dabei ist Lenas Geschichte bei weitem kein Einzelfall: 2012 befanden sich mehr als 11.000 Patientinnen und Patienten wegen einer Essstörung in stationärer Behandlung. Weitere Erkrankte ließen sich ambulant behandeln.

Laut Robert-Koch-Institut besteht bei etwa einem Fünftel aller Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren der Verdacht einer Essstörung. Darin nicht einberechnet ist die mutmaßlich hohe Dunkelziffer. Die Zahl der Erstdiagnosen von Magersucht steigt seit Jahren. Und: Magersucht ist die tödlichste aller psychischen Krankheiten, jeder sechste Betroffene stirbt daran. Wer nicht direkt mit dem Thema konfrontiert wird, beschäftigt sich oft gar nicht damit.

Häufig wird die Krankheit auch als Pubertätsproblem abgetan. Ein Fehler, meint Martina Hartmann, die im Verein „Dick&Dünn e.V.“ in Berlin Betroffene betreut. „Diese Annahme ist grundlegend falsch. Eine Essstörung kann in jedem Alter auftreten.“ Oft beginne die Krankheit wie bei Lena als vermeintlich vorübergehende Diät. Lenas reglementiertes Essverhalten verselbstständigt sich schnell, sie verliert stark an Gewicht. Ihre Eltern ahnen, dass etwas nicht stimmt, wollen jedoch ihre jüngeren Geschwister nicht beunruhigen. Sie meiden deshalb die offene Aussprache. Lena behauptet, sie habe alles im Griff.

Doch die Angst, wieder zuzunehmen, wird immer mehr zu ihrem ständigem Begleiter. Wer den ganzen Tag daran denkt, nicht zu essen, vernachlässigt schnell die eigenen Freunde und isoliert sich immer mehr. „Man konzentriert sich nur noch auf sich selbst und fühlt sich von anderen nicht verstanden“, erzählt Lena. Aber ihre Freunde lassen nicht locker. Gemeinsam mit Lenas Eltern schaffen sie es, die Magersüchtige zu einer Therapie zu bewegen. Erstmals realisiert Lena, dass sie krank ist. Doch der erste Anlauf scheitert: „Ich bin eigentlich nur meinen Eltern zuliebe hingegangen“, sagt Lena. Der Therapeutin erzählt sie erfundene Geschichten, die wahren Ursachen ihrer Krankheit kommen nicht ans Licht.

Laut Experten spielen bei der Entstehung von Essstörungen drei Faktoren eine Rolle: familiärer Hintergrund, soziales Umfeld und gesellschaftlicher Kontext. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der es als wünschenswert gilt, seine eigenen Bedürfnisse zurückstellen zu können“, sagt Martina Hartmann. „Eine Essstörung ist eine extreme Form dieser Bedürfnisunterdrückung.“ Sie betont allerdings auch, dass bei jedem Betroffenen viele Faktoren und Gründe zusammenspielen. Lena geht den Auslösern für ihre Magersucht nach der gescheiterten Therapie nicht weiter auf den Grund. Stattdessen nimmt sie wieder zu, um von ihren Eltern die Erlaubnis für ein Schuljahr in England zu bekommen.

Dort holt sie ihre Krankheit allerdings schnell ein – wieder nimmt sie ab. Als ihre Gastmutter sie darauf anspricht, bricht Lena zusammen. Zuhause beginnt sie eine neue Therapie. Dieses Mal arbeitet sie auch das Verhältnis zu ihren Eltern und Geschwistern auf. Sie versteht allmählich, dass sie vor allem nach Aufmerksamkeit suchte. Doch ihr krankhaftes Essverhalten ändert sich zunächst nicht. Erst ein Jahr später, nach dem Abitur, entscheidet Lena: „Wenn ich studieren will, dann muss ich grundlegend etwas ändern.“ Sie will endlich ein selbstständiges Leben ohne Zwänge führen und entschließt sich zu einem Klinikaufenthalt. Dort soll sie wieder normales Essverhalten erlernen. Gemeinsam mit ihren Eltern erarbeitet sie Regeln für den Alltag.

Nach fast einem Jahr hat Lena wieder Normalgewicht und ist bereit, die Klinik zu verlassen. Sie beginnt ihr Lehramtsstudium und zieht von zu Hause aus. Ihre Familie, Freunde und auch Lena selbst befürchten damals, dass sie alleine wieder in die Magersucht abrutschen könnte. „Im Endeffekt habe ich es aus dieser Angst heraus noch besser hinbekommen“, sagt Lena rückblickend. Dennoch sieht sie das Studium durchaus als Herausforderung für Betroffene: „Es ist eine neue Form von Druck und Anonymität.“

Experten sehen das ähnlich. Martina Hartmann findet es besorgniserregend, wie lange viele junge Menschen mit ihrer Erkrankung kämpfen, ohne dass jemand etwas merkt. „Meiner Meinung nach fehlen Kontrollinstrumente. Es wird zu sehr auf die Selbstverantwortung der Studierenden vertraut.“ Sie sieht also die Universitäten in der Fürsorgepflicht. Für Lena ist das dagegen nicht so eindeutig. Einerseits stimme es natürlich, dass es an der Uni keine Bezugsperson gebe, niemand, der sich für sie verantwortlich fühle. Allerdings stellt sich für sie die Frage, ob eine Uni als Bildungsstätte das überhaupt leisten muss. „Das Problem ist vor allem, dass der erste Impuls von den essgestörten Studierenden selbst ausgehen muss.“ Die aber fühlten sich oft nicht wahrgenommen.

Lena hat es seit dem Klinikaufenthalt geschafft, ihr Normalgewicht zu halten. Sie wirkt zufrieden mit sich, trifft sich nun mit Freunden zum Essen oder gemeinsamen Kochen. Wenn sie mit ihren Freunden in die Mensa geht, bringt sie sich aber immer noch etwas Selbstgemachtes mit. Mithilfe unterschiedlicher Therapien hat sie einen Weg gefunden, mit der Magersucht umzugehen. „Ich hatte keine Lust mehr, so eingeschränkt zu sein. Ich wollte mein Leben so genießen können, wie ich es von vorher kannte.“

Trotzdem gibt es auch jetzt noch Stresssituationen, in denen sie wieder beginnt, mit ihrer Ernährung zu kämpfen. Auch wenn sie sich nicht mehr ständig damit beschäftigt, werden die Gedanken an das Essen wohl niemals ganz verschwinden. Aber sie bestimmen nicht mehr ihr Leben.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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