Furios liest: Der Zeitgenössische

In „Heimsuchung“ erzählt Jenny Erpenbeck die bewegte Geschichte eines Jahres. Im Roman verarbeitet: 100 Jahre deutscher Geschichte. Und die drängt die Protagonisten in den Hintergrund. Von Julian Daum

"Heimsuchung" – die Facetten dieses Begriffs erkundet Erpenbeck. Bild:  btb Verlag

“Heimsuchung” – die Facetten dieses Begriffs erkundet Erpenbeck. Bild: btb Verlag

Für alles gibt es Regeln, vor allem Bei Hochzeiten. So darf eine Braut ihr Brautkleid nicht selbst nähen und zu keinem Zeitpunkt der Herstellung darf es reißen, man darf Geschirr in den Torweg werfen, aber kein Glas, die Hochzeit darf nicht an den Hundstagen stattfinden und wehe, der Brautzug zieht am Friedhof vorbei.

Die ersten Seiten von Jenny Erpenbecks Roman „Heimsuchung“ erinnern mit ihren formelhaften Regeln an ein klassisches Märchen um eine arme Schulzentochter, die Hochzeit feiern möchte. Doch plötzlich ist da ein Gärtner, später ein Architekt, seine Frau, ein Rotarmist, der sie vergewaltigt. Um wen geht es eigentlich in dieser Erzählung? Die Figuren jedenfalls scheinen nicht die Protagonisten zu sein.

„Heimsuchung” ist die Geschichte eines Ortes. Eines Ortes, der vereinnahmt, bewohnt, gestaltet und abgerissen wird. Es ist die Geschichte eines Hauses auf einem Waldgrundstück an einem märkischen See, das den Aufstieg und Fall von vier verschiedenen politischen Systemen erlebt. Es ist letztendlich eine Suche nach der Antwort auf die Frage: Was ist Heim, was ist Heimat?

Ein Jahrhundert wütet in einem Haus

Alle Figuren wollen dieses Haus beanspruchen, es wird von ihnen heimgesucht, über ein ganzes Jahrhundert, von der Weimarer Republik bis in die Nachwendezeit. In einzelnen Episoden lernt der Leser die Biographien der verschiedenen Bewohner kennen, die das Haus erbauen, kaufen, verwalten oder nur zu Besuch sind.

Immer wieder dringen Einflüsse von außen ein in diesen Ort. Wir erfahren von Ausweisung, Deportation oder Verlust durch Restitutionsansprüche. Es sind einzelne Schlaglichter auf die verschiedenen politischen Systeme, die sich mit den Schicksalen der Bewohner verknüpfen. In der Verfolgung der Bewohner erscheint klar die doppelte Bedeutung der Heimsuchung.

Gerahmt werden die Abschnitte vom Gärtner, dessen Geschichte jeder Biographie vorangestellt ist und als scheinbar zeitlose und unveränderliche Konstante nicht nur den verschiedenen Bewohnern beiwohnt, indem er stoisch erträgt und gehorcht, sondern letztendlich auch den physischen Zerfall des Hauses durch seine schwindende Gesundheit personifiziert.

Nur die Toten haben Namen

Weshalb aber gibt Jenny Erpenbeck den meisten ihrer Charaktere keine Namen? Die eingangs an die Formelhaftigkeit eines Märchens erinnernde Namenlosigkeit ist ein scharfes stilistisches Element, das eindringlich die Ohnmacht der Protagonisten gegenüber der politischen Regime zum Ausdruck bringt. Denn Namenlose sind Gesichtslose, sind Machtlose, Besitzlose, Getriebene.

Einzig die Toten haben Namen. Die Toten, die in vier aufeinanderfolgenden Staaten gestorben sind, wie die verrückte Schulzentochter Klara in der Weimarer Republik oder die Juden aus dem Badehaus während der NS-Zeit. Diese Figuren dürfen Namen tragen, denn Tote haben kein Heim, stellen keine Gefahr für das System dar.

Erpenbeck bedient sich einer Sprache, die zwar sehr distanziert, doch trotzdem einfühlsam mit den Charakteren umgeht. Man scheint niemanden richtig kennenzulernen, jedem ist nur ein kurzes Kapitel gewidmet. Doch die Identifizierung mit den auftretenden Figuren ist nicht ihr Ziel. Sie sind nur Staffage in einer politischen Welt, die den Faktor Individuum nicht kennt. Ihr Stil unterstreicht die Aussage, liest sich dafür manchmal etwas holzschnittartig. Lässt man sich aber darauf ein, offenbart sich eine wunderbar kurzweilige Allegorie auf 192 Seiten.

„Heimsuchung“ sucht eine Antwort auf die Frage, was Heimat ist. Erpenbeck gibt ihren Charakteren darauf keine Antwort. Denn das ist unmöglich in einer Welt, die ihre Einwohner nur als Inventar betrachtet.

Anspruch: 5/5

Spannung: 2/5

Erotik: 1/5

Action: 1/5

Der beste Satz: ” Will eine Jungfer erfahren, ob sie bald heiraten wird, muß sie in der Sylvesternacht an den Hühnerstall klopfen. Meldet sich zuerst die Henne, wird nichts draus, antwortet der Hahn, geht ihr Wunsch in Erfüllung.”

Heimsuchung

Jenny Erpenbeck

Verlag: Eichborn

8,99

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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