Nichts da mit Dschungelbuch-Idylle!

Zuckerrohrfelder statt Dschungel und Kühe statt Elefanten – drei Wochen in einem kleinen Dorf im südindischen Tamil Nadu haben Sarah Ashrafians Vorstellung von Indien auf den Kopf gestellt.

Die Affen haben wenig Berührungsängste. Foto: privat

Die Affen haben wenig Berührungsängste. Foto: privat

„Indien. Schließe deine Augen und sage: Indien. Dieses Wort birgt schon so viel Geheimnis, so viel Traum, so viel Dschungel.“ Die Worte aus dem Disney-Klassiker Dschungelbuch klingen noch immer in meinen Ohren und haben seit jeher mein Bild von Indien geprägt.

Spätestens nach drei Wochen muss ich mir aber eingestehen: Das tatsächliche Leben im kleinen Dorf Irudayampattu hat wenig mit Dschungelbuch-Idylle zu tun. Der Dschungel ist Kilometer weit entfernt. Und das einfache, von Landwirtschaft geprägte Leben der Menschen lässt den Traum und das Geheimnis in den Hintergrund rücken.

Das Dorf liegt im Landesinneren. Die nächste große Stadt ist Pondicherry, aber auch diese liegt circa vier Stunden Autofahrt entfernt. Supermärkte gibt es nicht – nur kleine Buden, die das Nötigste und ein paar Süßigkeiten für die Schulkinder verkaufen. Mehr brauchen die Bewohner auch für den Alltag nicht. Oft bauen sie Gemüse und Obst selber an.

Zwischen Zuckerrohrfeldern verteilt

Auch Zuckerrohr pflanzen sie hier. Denn unweit des Dorfes liegt eine Zuckerfabrik, die Ernte verkaufen die Bewohner dorthin. So bestreiten viele hier ihren Lebensunterhalt. Sie leben zwischen Zuckerrohrfeldern verteilt auf einem Radius von sechs Kilometern. Auch wenn das Dorf offiziell 8000 Bewohner hat – nach höchstens fünf Minuten Fußweg in jede Richtung entsteht das Gefühl, mitten im Nirgendwo zu stehen.

Die meiste Zeit wirkt die einzige Straße, die durch das Dorf führt, wie ausgestorben. Bei der Hitze sind die Häuser mit Strohdächern und Ventilatoren ein sicherer Zufluchtsort, auch nachts sind keine Bewohner außerhalb ihrer Häuser zu sehen. Doch vor fast jedem Haus steht eine Kuh und Hühner machen vor der Grenze einer Haustür keinen Halt: Sie sind kleine Lebenszeichen in einem Ort, an dem es oft scheint, als sei hier die Zeit stehen geblieben. Das ist weder Traum noch Geheimnis – nur der Alltag in Südindien .

Die Hochzeit ist das erste Date

Und doch gibt es immer wieder Momente, die wachrütteln und verkünden: Das 21. Jahrhundert ist auch in Irudayampattu angekommen. Motorräder brettern unter ununterbrochenem Gehupe minütlich die Dorfstraße hinunter. Das Hupen ist auf den ersten Blick nichts als ohrenbetäubender Lärm, schließlich gibt es nicht einmal Gegenverkehr. Doch die Fußgänger wissen: Sie müssen den Weg schnellstmöglich räumen. Denn der Motorradfahrer benötigt die gesamte Breite der Straße, um im eleganten Slalom den Schlaglöchern auszuweichen.

In jedem der kleinen Strohdachhäuschen steht mindestens ein Fernseher, der rund um die Uhr läuft. Die Stars der indischen Jugend irritieren den europäischen Geschmack ein wenig. Für Ortsansässige aber sind sie das Inbild von Attraktivität. Pummelige Männer mit Schnurrbärten und Frauen in Saris mit Krächzstimme tanzen und singen von ihren Beziehungsproblemen. Am Ende finden sie natürlich trotzdem zusammen. Aber aufgepasst! Mehr als ein Küsschen auf die Wange ist nicht drin.

Probleme, beim Zusammenfinden bleiben aber auch Sache der Filmstars. Die meisten Ehen im Dorf sind arrangiert. Am Tag der Hochzeit sieht sich das Paar oft zum ersten mal. Entsprechend fehlt das Lächeln in den Hochzeitsalben, welche zu jeder Gelegenheit stolz herum gezeigt werden. Jedoch scheint auch niemand unzufrieden damit zu sein. Die arrangierten Ehen würden Sicherheit geben und die Ehepartner würden schließlich auch passend zueinander ausgewählt. Das ist die allgegenwärtige Meinung sowohl der alten als auch der neuen Generation.

Vielleicht doch ein bisschen Disney?

Zwischendurch schleicht sich aber immer wieder der Gedanke ein, Mowgli, Balu und Baghira könnten doch einmal genau hier gelebt haben. Mädchen, die geschickt den Wasserkanister auf dem Kopf balancieren, laufen die kleinen Seitenwege der Dorfstraße entlang. Und Affen sitzen am Straßenrand, als wollten sie sagen: Ich möchte gehen wie du, stehen wie du, aber mit dir zusammen leben kann ich schon längst. Ein bisschen Affenkönig Louis aus dem Dschungelbuch spricht aus ihren Gesichtern.

Doch schließlich ist das Dschungelbuch auch nur ein Märchen und das Leben in Irudayampattu Wirklichkeit. Irudayampattu zeigt das echte Indien und seine Geschichte, welche nicht von Walt Disney erzählt wird, sondern von der Bevölkerung.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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