Die Zukunft ist ein Paradies für Schummler

Smartwatches läuten ein neues Zeitalter des Schummelns ein. Doch die FU scheint noch lange nicht vorbereitet auf die Raffi- nesse der »Digital Natives«. Von Melanie Böff

Illustration: Cristina Estanislao Molina
Illustration: Cristina Estanislao Molina

Der gute alte Papierspicker hat ausgedient. Zumindest, wenn in China die Zulassungsprüfungen für Universitäten anstehen: Um die zu bestehen, tragen manche der zehn Millionen Prüflingen kabellose Minikopfhörer im Ohr, selbstgebastelte Sender in Form eines Radiergummis oder Brillen mit versteckter Kamera. Fernab von Europa schummeln die Studenten auf High-Tech-Niveau. Damit stellt China einen Extremfall dar, der bei uns undenkbar ist. Oder?

Tatsächlich sind bei uns längst Geräte auf dem Markt, die das Mogeln während einer Klausur überraschend einfach machen: Smartwatches. Eine E-Mail mit Geschichtsdaten abrufen, die vergessene Formel nachsehen oder mit anderen die Lösung diskutieren: Das alles geht mit den kleinen Armbanduhren problemlos und unauffällig. Denn von digitalen Uhren sind Smartwatches kaum zu unterscheiden.

Das scheint die FU bisher nicht zu beunruhigen. Von Smartwatches als Schummel-Hilfe weiß man hier nichts. “Wir haben bisher keine Kenntnis darüber, dass das Verbot einer Nutzung von Smartwatches an der Universität diskutiert wird”, sagt ein FU-Sprecher. Auch an der Humboldt Universität hat man nach eigenen Angaben noch keine Erfahrung mit dem Thema.

Was hier noch nicht als Problem gilt, wird in England schon diskutiert. Weil man eine Smartwatch nur schwer erkennen kann, dürfen Studenten an einigen Hochschulen gleich gar keine Armbanduhren während der Klausur tragen.

Fällt die die FU im Wettlauf mit der Schummel-Technik zurück? Sebastian Sattler sieht die Unis jedenfalls im Zugzwang. »Es scheint leider ein bisschen wie beim Doping im Sport zu sein: Mit neuen Betrugsmethoden müssen die Prüfenden nachlegen, diese Betrugsmethoden zu erkennen und zu verhindern«, sagt der Soziologe der Universität Köln. Doch das scheint er den Dozenten nicht zuzutrauen: “Manche Lehrende werden vermutlich noch nicht einmal wissen, dass Studierende mit Hilfe von Smartwatches schummeln.”

Über vier Semester hat Sattler mehrere Tausend Studierende zu ihrem Schummel-Verhalten befragt. Dozenten gaben zudem Auskunft darüber, wie oft sie Studierende beim Betrug erwischten und was sie dagegen unternehmen. Sattlers Ergebnisse veranschaulichen, dass an deutschen Universitäten nicht gerade wenig gespickt wird: “In unserer Studie hat sich gezeigt, dass innerhalb von sechs Monaten jeder dritte Student unerlaubte Hilfsmittel in Prüfungen mitgenommen hat und etwa jeder Sechste sie auch benutzte.”

Erwischt wird in der Praxis allerdings kaum jemand. Diesen Eindruck bestätigt auch eine Stichprobe an den Fachbereichen der FU. Bei den Rechtswissenschaften mit meist um die 450 Prüflingen pro Klausur berichten Mitarbeiter von nur zwei bis drei festgestellten Täuschungsversuchen pro Semester. Beim Prüfungsausschuss der Wirtschaftswissenschaftler spricht man von einer kleinen zweistelligen Zahl. Am Fachbereich Biologie erinnert man sich ebenfalls an nur ganz wenige dokumentierte Schummelfälle. Genaue Zahlen kennt kein Fachbereich. Sie alle vermitteln aber den Eindruck, dass bei ihnen kaum jemand dem Erfolg unerlaubt auf die Sprünge hilft.

Das könnte daran liegen, dass die FU-Studenten besonders ehrlich sind. Es könnte aber auch daran liegen, dass man ihnen nicht genau auf die Finger schaut: Smartwatches in Prüfungen zu tragen, ist an vielen Fachbereichen bislang nämlich kein Problem.

Bei den Rechtswissenschaften sieht man in Hinblick auf Smartwatches zwar eine Parallele zu Handys und Tablets. Wie man mit den Datenuhren allerdings umgehen will, darüber hat der Prüfungsausschuss dort noch keine Entscheidung getroffen. Am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften hat man das Spicken per intelligenter Uhr noch nicht beobachtet. Vollkommen sorgenfrei scheinen die Biologen: Sie erachten den Nutzen von Handys und Smartwatches sogar als gering. “Angesichts des Zeitdrucks, unter dem Prüfungen geschrieben werden, verliert man beim Spicken per Whatsapp oder E-Mail viel Zeit und würde nicht groß profitieren”, heißt es auf Anfrage.

Die Fachbereiche sind weit entfernt davon, alarmiert zu sein. Überraschend, wenn man bedenkt, dass es bei Klausuren in Biologie oder Wirtschaftswissenschaften doch weniger um Essayfragen als vielmehr um die Abfrage von Faktenwissen geht. Und das lässt sich spielend einfach mit einer Smartwatch herausfinden.

Weiter als die drei großen Berliner Universitäten ist bei diesem Thema die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW). Hier standen Smartwatches bereits auf der Tagesordnung des Prüfungsausschusses. Der empfahl, sie grundsätzlich aus den Prüfungen zu verbannen, sagt eine Sprecherin der Hochschule.

Ein erster Schritt hin zu schärferen Kontrollen. Auf die verlässt sich China jetzt schon – mit besonders krassen Methoden: Uni-Gebäude werden gegen Mobilfunksignale abgeschirmt, Drohnen fliegen über den Campus, um Funksignale aufzuspüren. Eine lückenlose Überwachung der Prüfungssituation – die einzige Möglickeit, Studierende vom Mogeln abzuhalten?

Nein, findet Soziologe Sebastian Sattler. Vielmehr müssten Prüfungen neu gedacht werden. Denn, wenn Studierende spicken, liege das oft auch an den Klausuren selbst. Vor allem, wenn diese eher auf Auswendiglernen ausgerichtet seien als auf das Verstehen der Inhalte. Deshalb fordert Sattler, den Anteil von Klausuren generell zu verringern. Für sinnvoller hält er Prüfungsformen, bei denen sich Studierenden einem selbstgewählten oder vorgegebenen Problem stellen. “Das steigert im Idealfall die Motivation und fördert das Verstehen im Vergleich zum reinen Lernen von Fakten, die schnell wieder vergessen sind”, sagt Sattler.

So schwer sich die Unis damit tun, das Mogelpotenzial von Smartwatches zu erkennen, der Umgang mit neuen Prüfungsmodellen wird ihnen wohl kaum leichter fallen. Sattlers Vorschlag bleibt vorerst wohl Zukunftsmusik.

Währenddessen wartet die technische Entwicklung nicht. In Kalifornien bastelt Google schon weiter an seinen Smartglasses. Sie sollen unter anderem alltagstauglicher werden, also: unauffälliger. Noch ist nicht in Sicht, wann die Google-Brille auch für Studenten erschwinglich sein wird. Fest steht nur: Die Optionen für Schlitzohren sind längst nicht ausgeschöpft.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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