Cidre trinken unterm Stalinstachel

Die junge Generation verleiht Warschau ein neues Gesicht. Welche Rolle die polnische Geschichte dabei spielt und wie man Putin mit Apfelwein besiegt, hat Simon Purk herausgefunden.

„Wir sind die einzige vegane Pizzeria in Polen“, sagt Koch Scibor stolz. „Noch haben wir ein Monopol hier in Warschau, aber das wird nicht lange so bleiben.“ Seine Pizzeria liegt mitten in der Innenstadt und ist nur eines der vielen alternativen Angebote, die in den letzten Jahren in Polen entstanden sind. Die neuen Cafés, Bars und Kulturveranstaltungen, auch in Stadtteilen, die lange Zeit als unattraktiv galten, sind Ausdruck der selbstbewussten jungen Generation.

Eine Generation, die auf globale Trends nicht verzichten will. So leuchten auch hier überall die Reklamen großer Modekonzerne, die breiten Straßen Warschaus werden zum internationalen Laufsteg. Aber ab und zu blitzt ein kleines ankerförmiges Symbol durch das moderne Outfit – die Buchstaben P und W, ineinander verschlungen. Sie stehen für „Polska Walcząca“ – kämpfendes Polen – und sind das Symbol des Warschauer Aufstands von 1944. Nach seiner Niederschlagung sprengten die Deutschen Haus für Haus und massakrierten große Teile der Bevölkerung.

„Der Aufstand ist unheimlich präsent im öffentlichen Raum und wird in Diskussionen fast schon inflationär benutzt“, meint Agnieszka Kudelka, die gerade ihre Doktorarbeit zum Thema der polnischen und ukrainischen Erinnerungskultur schreibt.

Das Gedenken der seit jeher leidvollen Geschichte und des Kampfes gegen die äußeren Aggressoren ist in Polen fast schon Nationalsport, auch unter jungen Leuten. Besonders Putin verkörpert die ständig drohende Gefährdung der polnischen Freiheit. Als Reaktion auf die EU-Sanktionen stellte Russland 2014 den Import von polnischen Äpfeln ein. Polen hielt mit der Herstellung von Apfelwein dagegen. Der aus den überschüssigen Äpfeln produzierte Cidre avancierte innerhalb kurzer Zeit zum neuen Kultgetränk der jungen Szene Warschaus. Als genussvoll-patriotische Kampfansage darf er mittlerweile an keiner Theke fehlen.

Der Kulturpalast ist das Wahrzeichen Warschaus. Hinter seiner klassizistischen Fassade trägt er den Ballast der Geschichte: In den fünfziger Jahren ließ Josef Stalin den Wolkenkratzer in das von den Deutschen hinterlassene Trümmermeer setzen. Die Zeit als sowjetischer Satellitenstaat wurde damit eingeläutet. Noch heute ist der Palast daher Erinnerungsstück an eine weitere Phase der Unterdrückung. Doch die jungen Warschauer schätzen das breite Angebot des „Stalinstachels“. Von Tanzclub bis Theater – die sowjetische Machtdemonstration ist mittlerweile zur bunten Kulturhochburg der Stadt geworden.

Um den Kulturpalast herum sind in den letzten Jahren neue gläserne Bürotürme aus dem Boden geschossen. Der Turbokapitalismus treibt die Preise in der Stadt in die Höhe. Doch findet bisher noch jeder seinen Platz, zwischen restaurierter Alt- und sozialistischer Planstadt. Ob schwedische Modekette oder Fellmütze aus der Tatra, vegane Pizza oder traditionelle Kantine – das Stadtbild spiegelt den Geist der jungen Polen wider. Dieser liegt irgendwo zwischen Weltgewandtheit und Patriotismus, Geschichtsbewusstsein und Moderne.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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