Zerrüttete Wirklichkeit

Vergangenen Spätsommer ist der Schriftsteller Navid Kermani auf der Balkanroute von Deutschland nach Izmir gereist. Seine Eindrücke hat er in einer Reportage festgehalten. Von Friederike Oertel

Navid_Kermani

Für sein Buch ging Kermani die Balkanroute entlang. In die andere Richtung. Foto: Moises Saman/C.H. Beck

Sie kommen zu Fuß, in Booten, Bussen, Gefängniswagen oder Sonderzügen, warten in Kälte und Regen und campieren auf schlammigem Boden. Tausende Flüchtlinge sind auf der Balkanroute in Richtung Europa unterwegs. Navid Kermani, Schriftsteller und Friedenspreisträger, ist im Spätsommer 2015 zusammen mit dem Fotografen Moises Saman im Auftrag des Spiegel die Route entlang gereist ­– in der Gegenrichtung. Vom „seltsam weichgewordenen Deutschland“, das Flüchtlinge willkommen heißt, nach Budapest zur griechischen Insel Lesbos über die Agäis hinüber ins türkische Izmir.

Nach einer Teilveröffentlichung im Spiegel erschien seine Reportage Ende Januar unter dem Titel „Einbruch der Wirklichkeit“ als schmales Buch. Die Form der Veröffentlichung erscheint ungewöhnlich, ist doch die Flüchtlingssituation ein hochaktuelles Thema, das Buch hingegen ein langsames Medium, das lektoriert, hergestellt und vertrieben werden muss. Bis die Bücher im Handel erscheinen, könnte sich der Kontext verändert haben. So ist Kermanis Beschreibung der Willkommensszenen in Köln, die er noch vor der Silvesternacht verfasste, ein unbeabsichtigtes Zeugnis dafür, wie schnell die Situation kippen kann.

Dem Strom entgegen

Doch Kermanis Reportage ist mehr, als reine Bestandsaufnahme. Er geht die Route rückwärts, in die entgegengesetzte Richtung. Und so verlaufen auch seine Beobachtungen gegen den Strom: Statt pauschal zu verurteilen, stellt er Zusammenhänge dar. Wenn er beschreibt, wie Ungarn die Grenzen mit Zäunen und Stacheldraht gegen Flüchtlinge zu verteidigen suchte und gleichzeitig die gleichen Flüchtlinge stillschweigend in kostenlosen Bussen nach Österreich brachte, kritisiert er nicht einfach die europäische Asylpolitik, sondern zeigt auch die Merkwürdigkeiten auf, die Europa als Solidargemeinschaft ad absurdum führen.

Bei aller Kritik bleibt Kermani ein Beobachter, der zu differenzieren weiß. Er setzt sich mit der Realität auseinander, wie er sie vorfindet – jenseits von Ideologien und Besserwisserei. Die Tatsache, dass Deutschland sich selbst jahrelang gegen eine gerechte Verteilung gesperrt hat, ist genauso Bestandteil seiner Reportage wie die Beschreibung kurioser Szenen von Helfern, die Paternalismus und Selbstgerechtigkeit an den Tag legen oder das ungemütliche Eingeständnis sich selbst gegenüber, dass auch die journalistische Berichterstattung eine Möglichkeit der Erleichterung ist, während man weiter sein Wohlstandsleben führt.

Menschliche Einzelschicksale

Es sind vor allem die konkreten, zwischenmenschlichen Begegnungen, die ihn erschüttern und nicht so leicht wieder loslassen: „Es herrscht Krieg an den südlichen und östlichen Grenzen unseres Wohlstandsghettos, und jeder einzelne Flüchtling ist dessen Bote: Sie sind der Einbruch der Wirklichkeit in unser Bewusstsein“, schreibt er. Den Menschen die er trifft, den Kraftlosen, Beraubten und Desillusionierten gibt er eine Stimme, indem er ihnen zuhört, mit ihnen spricht, ihre Wut, ihre persönlichen Schicksale und Sehnsüchte zusammenträgt. Es sind diese Details, die einen nachdenklichen Gegenpol zur medialen Aufgeregtheit und Polarisierung schaffen.

Doch auch die Einzelschicksale haben bei Kermani eine politische Dimension, die zeitlos ist. Denn das kleine Mädchen, das dem „Polizisten so zärtlich über die blaue Uniform streicht“, mittellose afghanische Familien, junge Syrer, freiwillige Helfer oder Fotografen – die Begegnung mit ihnen bestimmt unsere Einstellung zu Europa und seiner Asylpolitik, ob wir das Fremde dämonisieren oder unserer Empathie und Menschlichkeit Bahn brechen.

Einbruch der Wirklichkeit – Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa

Autor: Navid Kermani

Verlag: C.H.Beck

Seiten: 96

ISBN: 978-3406692086

Preis: 10,00 Euro

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert