Wo Gender Tradition trifft

Pakistan gehörte zu den ersten Ländern, die ein drittes Geschlecht offiziell anerkannten – Menschen ohne feste Geschlechtsidentität sind dort traditionell Teil der Gesellschaft. Omar Kasmani forscht zu diesem Thema. Von Rebecca Stegmann

Omar Kasmani in einer Hijra Kommune in Sehwan, Pakistan 2012. Foto: Remy DelageOmar Kasmani (rechts) in einer Hijra Kommune in Sehwan, Pakistan 2012. Foto: Remy Delage

Pakistanis können, wenn sie ihren Ausweis beantragen, zwischen fünf Geschlechterkategorien wählen. Hijras, Menschen des dritten Geschlechts, spielen in Südasien eine wichtige Rolle bei Hochzeiten und anderen Festen. Omar Kasmani, gebürtiger Pakistani und wissenschaftlicher Mitarbeiter am FU Institut für Sozial- und Kulturanthropologie, hat mehrere Jahre lang zu Gender in einer Kleinstadt in Pakistan geforscht.

FURIOS: Herr Kasmani, welche Menschen genau bezeichnen sich als Hijra?

Omar Kasmani: Hijras sind Personen in Südasien, die sich nicht Geschlechter-Binär identifizieren, deswegen werden sie oft auch als drittes Geschlecht bezeichnet. Dazu zählen Menschen, die intersexuell geboren wurden, also deren körperliches Geschlecht nicht eindeutig ist, sowie mit einem männlichen Körper geborene Individuen, die freiwillig entmannt wurden oder eine geschlechtsangleichende Operation durchführen ließen. Auch Individuen, die sich nur der weiblichen Norm entsprechend kleiden, sind Hijras. Pakistan ist ein Land traditioneller Werte, das dritte Geschlecht ist jedoch gesellschaftlich akzeptiert. Familien können sich damit arrangieren. Das bedeutet aber nicht, dass Hijras keine Gewalt, Spott und Diskriminierung erfahren.

Welche Rolle spielt das dritte Geschlecht in der Gesellschaft?

Hijras leben in Kommunen unter sich, nur mit Menschen, die so geboren oder geworden sind. Diese Kommunen gibt es in ganz Pakistan. Zu jeder Kommune gehört ein Einflussgebiet von Städten oder Dörfern, in das die Kommunenmitglieder bei Hochzeiten oder zur Geburt eines Sohnes gehen, um zu singen, zu tanzen und Segnungen zu geben. Intersexuelle und entmannte Individuen – die selbst unfruchtbar sind – werden als mächtig angesehen, weil sie Fruchtbarkeit auf Andere übertragen können. Hijras sind also ein fester Bestandteil des zeremoniellen Dorflebens. Für ihren Segen verlangen sie Spenden, zum Beispiel Geld, Kleider oder Nutztiere. Wenn Menschen sich weigern zu spenden, können die Hijras sie verfluchen – deswegen werden sie gleichermaßen respektiert und gefürchtet.

Wie kleiden sich Hijras?

Sie kleiden sich für gewöhnlich nach der weiblichen Norm: also langes Haar und Make-up. Die überspitzte Weiblichkeit hebt sie auch von Frauen ab. Man könnte sagen, Hijras übertreiben, deswegen sind sie in der Öffentlichkeit zu erkennen. Es ist dieses gleichzeitige Distanzieren und Ansprechen von beiden Geschlechtern, das Wissenschaftler dazu veranlasst, für ein drittes Geschlecht zu argumentieren. Ich finde jedoch, dass der Begriff „drittes Geschlecht“ einengend ist. Nicht normatives Gender-Verhalten zu kategorisieren birgt die Gefahr, die Vielfalt der Praktiken und Ausdrücke zu homogenisieren.

Müssen Hijras in einer Kommune leben oder können sie auch einen „normalen“ Beruf ausüben?

Das können sie natürlich, aber diese Wahl wäre schwieriger und finanziell unsicherer im Vergleich zum Leben in einer Kommune. Es gibt Hijras, die unabhängig als Entertainerinnen, Sex-Arbeiterinnen und Tänzerinnen arbeiten. Allerdings tun dies hauptsächlich Hijras, die nicht entmannt sind, und deswegen gar nicht in einer Kommune leben könnten. Das Kommunensystem ist ein alter Brauch, aber es verändert sich natürlich. Auch der Staat versucht „normale Jobs“ für Hijras zu schaffen, zum Beispiel als Steuereintreiber.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

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