Das Leben in einer WG ist nicht immer einfach – und doch lässt es sich mit niemandem so schön lachen und weinen, streiten und versöhnen wie mit den eigenen Mitbewohnern. Unser Essay erzählt, wie man in ihnen nicht nur Freunde, sondern sogar eine Familie finden kann. Von Charlotte Kutz
Nichts ist privater als das eigene Zuhause. Es ist Rückzugsort und Raum zum Austoben. Hier können wir wir selbst sein, die Hosen und die Höflichkeit ablegen. Doch viele von uns leben in Wohngemeinschaften und teilen sich ihr Heim mit Menschen, die ihnen anfangs fremd sind – und die manchmal zur Familie werden. So ist es bei mir gekommen: Meine WG ist nicht nur der Ort, an dem sich mein Bett, mein Bad und mein Kühlschrank befinden. Meine WG ist meine Familie. Lea, Christian und ich – wir teilen uns nicht nur den Wohnraum, sondern auch den Alltag. Morgens treffen Lea und ich uns verschlafen im Flur und schlurfen in die Küche, wo Christian schon Kaffee für alle gemacht hat. Abends bringe ich die WG-Einkäufe mit und Lea kocht. Wenn ich dann später über einen Text gebeugt an meinem Schreibtisch sitze, bringt Christian mir einen Teller warmes Essen in mein Zimmer.
Wenn weniger zu tun ist, sitzen wir manchmal auch stundenlang in Leas Zimmer. Wir lümmeln uns auf ihre Couch und hören ihr zu, während sie von all den Dingen erzählt, von denen sie so viel mehr weiß als wir: Musik, Beziehungen, Klamotten. Irgendwas können wir von ihr immer lernen. Zu Hause ist aber auch der Ort, an den ich mich zurückziehe, wenn es mal nicht läuft: Liebeskummer, Streit mit Freunden, Uni-Stress – darüber spreche ich mit der WG-Familie. Schließlich sollen sie sich keine Sorgen machen, wenn ich mal eine Woche abtauche, um mich auf der Couch beim Binge Watching zu erholen. Auch wenn ich krank bin, sind meine Mitbewohner dem ganzen Elend ausgesetzt. Christian bringt mir dann Tempos mit und beschwert sich nicht, wenn mein lautes Husten ihn nachts wachhält.
Wann ich wusste, dass wir eine Familie werden? Wahrscheinlich an dem Tag, als ich kurz nach meinem Einzug krank wurde. Ich lag auf meinem Hochbett und dachte, ich sterbe. Da kam Lea mit einem Tablett in mein Zimmer, auf dem eine Tasse Tee, ein Muffin, ein Strauß Blumen und eine Zigarette lagen. Ich glaube, in genau dieser Sekunde wurde ich schlagartig wieder gesund.
Familien kann man sich nicht aussuchen. Mitbewohner auch nicht. Klar, im Prinzip entscheidet man sich für eine WG. Aber das meist nach einem knappen WG-Casting und mit dem Druck des Berliner Wohnungsmarkts im Nacken. Dabei kratzt man höchstens an der Oberfläche, erst nach dem Einzug offenbaren sich Macken und Stärken. Ob das Zusammenleben dann klappt, hat auch viel damit zu tun, wie viel Liebe und Verständnis man diesen Menschen entgegenbringen kann. Wenn man Glück hat, so wie ich, findet man hier bedingungslosen Zusammenhalt.
Der grundlegende Unterschied zu einer Familie ist jedoch das Ablaufdatum, das eine WG hat. Ich werde wahrscheinlich noch in einigen wohnen und weiß noch nicht, ob ich meinen neuen Mitbewohnern so gebannt lauschen werde wie Lea, oder ob sie mir Tempos kaufen werden, wenn ich krank bin. Vielleicht wird meine nächste WG eine Zweckgemeinschaft, vielleicht auch ein Albtraum. Sicher ist, dass ich Lea und Christian als Familienmitglieder nicht mehr verlieren werde.