Wer bin ich?

Bin ich witzig oder gemein, eingebildet oder selbstbewusst? Die Frage nach dem Selbst stellt sich jedem, denn so ganz sicher ist sich keiner: Bin ich gerade ich selbst oder verstelle ich mich? Oder bin ich vielleicht doch Manuel Neuer?

Ich bin sehr schüchtern – dachte ich zumindest. Mir fällt es schwer, auf Menschen zuzugehen, ich stehe auch nicht gerne im Mittelpunkt. Meine Kommilitonen sehen das aber anscheinend anders. Einer hat mich sogar neulich als Rampensau bezeichnet. Wie können die Menschen, die mich jeden Tag erleben, so ein falsches Bild von mir haben? Oder habe ich ein falsches Bild von mir selbst? Kann ich zwei so unterschiedliche Dinge gleichzeitig sein?

Der Mensch hat drei Gesichter, besagt ein japanisches Sprichwort. Das erste Gesicht zeigen wir der Öffentlichkeit: Wir inszenieren uns tagtäglich in der Uni, auf Facebook, in der U-Bahn. Ganz anders verhalten wir uns, wenn wir von Freunden oder Familie umgeben sind. Wir haben dann das Gefühl, wir selbst sein zu können. Das Selbst aber ist dem Sprichwort nach das dritte Gesicht, das wir überhaupt niemandem zeigen. Es sind unsere intimsten Gedanken und Gefühle.

Ist mein Körper dann nur eine Hülle, das Selbst mein Innenleben? Wer bin ich? Ich gebe mich mit der Antwort des Sprichworts nicht zufrieden und wende mich an die Wissenschaft. Sie liefert uns dazu die verschiedensten Antworten. Religionswissenschaft, Philosophie oder Neuropsychologie, sie alle sind sich uneinig.

Alessandro Stavru forscht seit 13 Jahren an der FU zu den Religionen der Antike. Als Philosoph und Religionswissenschaftler befasst er sich täglich mit der Frage nach dem Selbst. „Das Selbst beginnt da, wo wir uns von dem absetzen, was uns umgibt“, erklärt er. Wir sind also all das, was uns von anderen unterscheidet. Nach Stavru würden wir uns nicht nur körperlich abgrenzen, sondern auch in unserem Denken und Fühlen.”Diese Einzigartigkeit ist es, die unser Selbst ausmacht.“

Ich lege also meinen ganz persönlichen Instagram-Filter über die Welt. Diesen mentalen Prozess nennt Stavru den Geist. Er sei an den Körper gebunden und sterbe zusammen mit ihm. Doch lebt etwas von mir weiter, wenn Körper und Geist nicht mehr sind?

Die Religionswissenchenschaft beantwortet diese Frage mit der Existenz der Seele. „Die Seele ist vom Körper losgelöst“, meint Stavru. Sie gilt als ewiger Kern, der einer Person innewohnt und ist damit unsterblich.

In vielen Kulturen, so Stavru, gelte der Körper sogar als Gefängnis der Seele: „Dort geht man davon aus, dass die Seele nacheinander in mehreren Körpern lebt.“ Der Religionswissenschaft zufolge besteht das Selbst also aus dem Geist, der mit dem Körper stirbt, und einer unsterblichen Seele, die unabhängig vom Körper existieren kann.

Der Philosoph und FU-Professor Georg Bertram sieht das anders. Für ihn ist das Selbst untrennbar mit dem Körper verbunden, eine ewige Seele gibt es nicht. Das Selbst aber verschwindet nicht vollständig mit dem Tod, sondern existiert in den Erinnerungen anderer weiter: “Es ist nicht ganz weg, kann sich aber nicht mehr aktiv ausdrücken.“ Das leuchtet ein: Wenn Verwandte oder Freunde sterben, verschwinden sie schließlich nicht aus meiner Welt, sondern bleiben in meiner Erinnerung erhalten. Diese Erinnerung bleibt dann meistens so bestehen, wir haben ein festes Bild von der Person. Dabei ist das Selbst zu Lebzeiten nie etwas statisches, das man festnageln könnte. Die “Selbstverständnisse” einer Person verändern sich immer wieder, so Bertram. Dies sei charakteristisch für uns Menschen. “Wer ich bin, hängt immer auch davon ab, wie ich mich in bestimmten Situationen sehe”, so Bertram.

Wir sind demnach, wer wir sind, weil wir bestimmte Selbstverständnisse entwickeln. Ich erfinde mich also in jeder Situation neu und bin viel zu komplex, als dass man von einem festen Selbst sprechen könnte. Das Bild, das man von anderen Personen hat, istt hingegen meistens an konkrete Situationen geknüpft und bleibt deshalb eher statisch. Neulich zum Beispiel traf ich eine frühere Freundin wieder. Ich hatte sie ganz anders in Erinnerung – eben wie aus der Zeit, als wir zusammen Abitur gemacht hatten. Ich erkannte sie kaum wieder, es war, als hätte ich einen ganz neuen Menschen vor mir.

Bei uns selbst kann das nicht passieren, denn wir erschaffen unser Selbstbild ständig von Neuem. Der Neuropsychologe Jakub Limanowski erklärt, das Selbst sei lediglich ein Modell, das sich mit jeder neuen Erfahrung aktualisiert. Dies sei einem nicht immer bewusst: „Man kann immer nur wissen, wer man war. Im aktuellen Moment aber ist der Mensch ein Prozess, den man nicht greifen kann.“ Wenn ich mich aber mit jedem neuen Moment verändere, kann ich dann überhaupt von einem Ich sprechen, das ist? Nein, so Limanowski – man sei von einem Moment auf den anderen nie dieselbe Person: „Das Selbst ist ein Zusammenspiel von meinem jetzigen Funktionieren in der Welt und meiner Vergangenheit.“

Doch wie sieht dieses Selbst aus? Ist es in meinem Körper gefangen, mit ihm verbunden oder völlig losgelöst davon? Ähnlich wie die Philosophie sieht auch die Neuropsychologie Körper und Selbst untrennbar miteinander verbunden. „Was wir als zu uns gehörig erleben, hängt auch davon ab, was wir als Teil unseres Körpers verstehen,“ so Limanowski. Ein Beispiel ist der Phantomschmerz. Dabei empfindet man Schmerzen in Gliedmaßen, die man verloren hat. „Man fühlt den Schmerz in einem Körperteil, den man als Teil von sich selbst empfindet, auch wenn er gar nicht mehr da ist“, erklärt Limanowski.

Das Selbst kann sich also sogar über die Grenzen des Körpers hinaus erstrecken. „Wir können zum Beispiel Werkzeug wie ein Blindenstock als Teil unserer Selbst verstehen, quasi als Verlängerung unseres Körpers“, meint Limanowski. So gesehen seien auch Computer, Stift und Papier eine Erweiterung unseres Gedächtnisses, nur eben eine ausgelagerte. Abhängig davon, in welcher Umgebung ich mich befinde, aktualisiert sich also das Modell meines Körpers – und damit mein Selbst.

Wer bin ich also – ein vergänglicher Körper mit einer unsterblichen Seele? Ein Produkt meines Selbstverständnisses? Ein wandelbares Modell meines Körpers? „Auf diese Frage gibt es keine objektive Antwort, die man einfach nachschauen könnte“, antwortet Bertram. Vielleicht hören wir also am besten einfach auf, nach uns selbst zu suchen. Stavru widerspricht: „Das Schöne an dieser Frage ist, dass es auf sie keine endgültige Antwort gibt und sie wirklich immer wieder gestellt werden muss.“ Und bis dahin müssen wir uns vielleicht mit einem japanischen Sprichwort begnügen.

Autor*in

FURIOS Redaktion

Unabhängiges studentisches Campusmagazin an der FU seit 2008

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.