Mitläufer: Ankommen in Berlin

Die „Geflüchtete zeigen ihr Berlin“-Touren des Vereins „querstadtein“ zeigen verschiedene Bezirke wie Neukölln aus einem neuen Blickwinkel. Und dieser tut gut findet Felix Lorber.

Über den Dächern seiner neuen Heimat: Hamdi Kassar. Foto: Felix Lorber
Über den Dächern seiner neuen Heimat: Hamdi Kassar. Foto: Felix Lorber

Hamdi Kassar lächelt als er die rund 15 Besucherinnen und Besucher, die mit ihm Neukölln aus einer anderen Perspektive entdecken wollen, zu einem Rätsel herausfordert. Er gibt uns einen Auftrag für die kommenden zwei Stunden mit: „Wer kann mir am Ende der Tour sagen, welchen Beruf ich in Syrien hatte?“

Als Kassar in Syrien arbeitete, war das vor dem Krieg. Es war, bevor sich hunderttausende Menschen auf die Flucht begeben mussten. Auch Kassar hat den beschwerlichen Weg auf sich genommen. Auf einem Schlauchboot, das statt der erlaubten 20 plötzlich 63 Personen von der Türkei auf eine griechische Insel bringt. Während sich um ihn herum Weinen, Schreie und Gebete vermischen, schläft er ein – bis er europäischen Boden erreicht. Zu Fuß geht er weiter von Serbien nach Ungarn, auf dem Weg, den auch Tausende andere im Sommer 2015 auf sich genommen haben. Heute ist er in Berlin und spricht über das Erlebte. Seine Geschichte ist besonders eine des Ankommens, der Hilfsbereitschaft vieler Menschen und auch des Glücks.

„Neukölln from the newcomer perspective”

An diesem Sonntagnachmittag erstrahlen die Gehwege und Cafés der Neuköllner Sonnenallee in entspannter Gemütlichkeit. Mittlerweile ist sie auch als „Arab Street“ bekannt, weil hier über 60 Prozent der Geschäfte und Restaurants einen arabischen Namen tragen. Hamdi Kassar lädt uns auf ein Spiel ein: Wir bekommen kleine Zettel, auf denen verschiedene dieser Namen stehen, ohne Übersetzung – die Schriftzeichen sind für Laien kaum zu unterscheiden. Während wir einen Teil der Sonnenallee durchqueren, sollen wir nun Ausschau halten. Das Rätsel ist nicht zufällig ausgewählt. Die schließlich gefundenen Namen markieren spezielle Ziele, mit denen Kassar und ein Großteil der Geflüchteten in Berlin Erinnerungen verbinden. Zum Beispiel sind es die Umkalthum Cafés, die alle Syrer und Syrerinnen aus der Heimat kennen oder die Supermärkte, die auch hier in Berlin original arabische Marken anbieten.

Wir lernen in kurzer Zeit so vieles über das Ankommen in einer fremden Stadt, voll mit fremden Menschen, dass wir uns fragen, wie es uns dabei wohl selbst gehen würde. Was könnten wir mitnehmen aus der Heimat, was bedeutet dieses Wort eigentlich?

Neue Zukunft in Deutschland

Kassar schiebt möglichen Nostalgieversuchen aber einen Riegel vor. Berlin erinnere ihn sehr an Damaskus. Die ersten wirklichen Unterschiede, die er erkennen musste, waren das Fehlen eines richtigen Berges, von dem man die Stadt überblicken kann – und das Vorhandensein der großen Sex-Shops. Diese hätte es in Damaskus wirklich nicht gegeben.Und so werden wir auch Zeugen eines Nachmittags des Aufbruchs. Es geht nicht darum, an der Erinnerung hängen zu bleiben. Berlin ist nun ein neues Zuhause; und ohne das alte zu vergessen, vermittelt Kassar uns doch, wie es ist, mit Freude statt Verzweiflung Neuem zu begegnen, sich von Euphorie und Gelassenheit leiten zu lassen.

Als Hamdi Kassar zur abschließenden Auflösung seines Rätsels ruft, haben ihn die meisten bereits enttarnt. Der junge Mann entpuppt sich als TV-Moderator, der seinen Weg nun in Deutschland fortsetzen will. In Berlin nutzt er bereits zahlreiche Möglichkeiten, Praktika zu absolvieren und Programme selbst zu gestalten. Und seine Bemühungen fruchten. Eine Woche nach der Tour veröffentlicht Kassar auf seiner Facebook-Seite ein Video mit einer deutschen Politikerin. Er stellt ihr Fragen zur Integration, zu den Aufgaben der Geflüchteten und zur Rolle der Einheimischen. Bei Kassars Gesprächspartnerin handelt es sich um Bundeskanzlerin Merkel.

Autor*in

Felix Lorber

schrieb, schreibt und wird geschrieben haben - für FURIOS und andere. Vorwiegend online, mal über Politik, mal über Musik.

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