Schottland steht nach der Entscheidung für den Brexit wieder einmal kurz vor dem Absprung in die Unabhängigkeit. Doch welche Konsequenzen das nach sich ziehen wird, weiß keiner so genau. Unsere Autorin berichtet, wie die Studierenden in der schottischen Hauptstadt damit umgehen. Von Hanna Sellheim
Aus der Mitte eines monströsen Monuments schaut Sir Walter Scott, Poet und stolzer Schotte, auf die Princes Street in Edinburgh herab. Unter ihm erzeugt ein Dudelsackspieler im Schottenrock Töne in einer quälenden Tonlage, während Touristen emsig von Laden zu Laden laufen, um sich mit Whisky, Shortbread und Haggis-Rezepten einzudecken. Nein, diese Beschreibung ist keine stümperhafte Ekphrasis einer schäbigen Postkarte, die ich letzte Woche einem mittelmäßig geliebten Familienmitglied nach Hause geschickt habe, sondern nur allzu real. Hier, im Osten Schottlands, in der Hauptstadt des Landes der Lochs und Quilts, ist tatsächlich alles ganz genau so schottisch, wie man es sich vorstellt. Mit nationaler Identität wird hier nicht gespaßt.
Wem hier aus Versehen »England« statt »Schottland« herausrutscht, der wird mit bösen Blicken bestraft und auch finanziell macht sich der Bruch zwischen den Landesteilen an der University of Edinburgh bemerkbar: Studierende aus Schottland und der EU bekommen ihre Studiengebühren von der schottischen Regierung bezahlt. Studienanwärter aus England hingegen werden zur Kasse gebeten, und das nicht zu knapp: Um die 9000 Pfund zahlen sie für ein Jahr Studium in der schottischen Hauptstadt. Die anderen renommierten Universitäten von Aberdeen, St. Andrews und Glasgow halten es ähnlich.
Bei den Studierenden wird dieser, auf Abgrenzung beruhende, Patriotismus nicht geteilt. Der Anteil der internationalen Studierenden an der Edinburgh University ist hoch, und jene, die tatsächlich aus Schottland stammen, freuen sich über die Aussicht auf Studium und Arbeit im Ausland. Das Ergebnis der Brexitabstimmung hat sie daher schwer getroffen – die Nachwehen sind immer noch überall zu spüren. Ein kleines Schildchen an der Bar eines Pubs bittet um Spenden für Brexit-Überlebende und auch viele Studierende sind sich nicht zu schade für einen kleinen Witz auf Kosten ihrer misslichen Lage. Allerdings schwingt immer auch ein wenig Wehmut in der Stimme mit. Nicht einmal die Dozierenden lassen sich davon abhalten, in Seminaren und Vorlesungen deutlich ihren Unmut über die Entscheidung zu äußern.
Kein Wunder: Schottland ist wohl die Region mit den meisten Enttäuschten über das tragische Ergebnis im gesamten Vereinigten Königreich. 62 Prozent der Menschen stimmten für einen Verbleib in der EU, bloß 38 Prozent für den Ausstieg. Dennoch hatten sie damit keine Chance gegen den englischen Süden, in dem die Leave-Kampagne der Brexit-Boyband um Nigel Farage und Boris Johnson ungehemmt Stimmen einheimsen konnte. Die schottische Bevölkerung leidet unter einer Entscheidung, die sie nicht gefällt hat.
Ein neues Referendum ist nun der letzte Strohhalm für die Hoffnung der Schottinnen und Schotten. Sollte Theresa May einen harten Brexit anstreben und auch den Binnenmarkt mit der EU aufkündigen, so hat es Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, versprochen, soll es eine neue Abstimmung über die Unabhängigkeit von London, Queen und Downing Street geben. Danach soll über den Verbleib Schottlands in der EU verhandelt werden. May hat sich bisher über diesen Vorschlag keineswegs amused gezeigt.
Schon vor zwei Jahren gab es einen ähnlichen Versuch, der jedoch knapp scheiterte. Die Ironie: Die Kampagne für eine schottische Unabhängigkeit wurde damals von genau jenen geführt, die jetzt für einen Verbleib im Vereinigten Königreich werben. Bestimmte damals ein nationalistischer Unterton die Debatte, ist es jetzt der Wunsch nach dem Gemeinschaftssinn, der internationalen Vernetzung, den Vorteilen einer Mitgliedschaft in der EU. Damals stimmten die meisten jungen Leute mit »Nein«. Nun ziehen sie ein »Ja« in Erwägung.
Doch ob die Unabhängigkeit und der Verbleib in der EU überhaupt möglich wären, weiß so genau keiner. Besonders die Wirtschaft ist ein unsicherer Faktor. Denn obwohl diese in Schottland im letzten Quartal wieder einen leichten Aufschwung erlebt hat, bleibt ihr Wachstum dennoch schwächer als das des gesamten Königreichs. Und wie es um die Stabilität des BIP steht, wenn Edinburgh sich von London lossagt, ist schwer vorherzusagen. Die schottische Wirtschaft kann sich auf Lebensmittelexporte und einen lebhaften Tourismus verlassen, schließlich lassen sich teurer Whisky und ein Aufenthalt zwischen Kühen und Moorwiesen blendend an den Rest der gestressten Weltbevölkerung verkaufen. Außerdem ist das Land im Besitz von nicht unbedeutenden Mengen Öl, die vor der Küste von Aberdeen aus dem Meeresboden gesaugt werden.
Doch auch diese Ressourcen halten nicht ewig. Worauf kann sich das Land danach verlassen, wenn es ohne die Unterstützung des restlichen Königreichs dasteht? Würde Schottland sich nach beschlossener Unabhängigkeit neu für eine Mitgliedschaft in der EU bewerben, ist es unsicher, ob das gut fünf Millionen Einwohner zählende Land die nötigen Kriterien für einen Wiedereintritt erfüllen könnte.
Sollte das Referendum für eine schottische Unabhängigkeit erneut scheitern, will Sturgeon mit Brüssel andere Möglichkeiten einer flexiblen Mitgliedschaft Schottlands in der EU diskutieren. Doch ob die anderen EU-Mitgliedsstaaten sich mit einem halbherzigen Brexit arrangiere würden, ist fraglich. Ein trotziger Ausschluss des Vereinigten Königreichs von allen Privilegien der EU bleibt zu befürchten.
Nicht zuletzt gilt dies für die Studierenden. Ob das Erasmus-Programm unter diesen Bedingungen bestehen bleiben kann, müsste neu verhandelt werden. Ebenso in Gefahr wären Praktika, sowohl für britische Studierende im EU-Ausland als auch für europäische Studierende in Großbritannien. Sicher ist: Das Brexit-Votum hat den Graben zwischen Schottland und England noch weiter vertieft. Sowohl Nationalismus als auch Weltoffenheit könnten nun ungewollterweise in dieselbe Richtung arbeiten und das Land gemeinsam in die Unabhängigkeit treiben. Doch wie Schottland sich autonom im Haifischbecken der internationalen Politik behaupten soll, ist ungewiss. Sir Walter Scott, der alte Poet, wird in den nächsten Monaten von seinem Thron so einiges zu beobachten haben.