Trapezkunst, Feuerspucken, Jonglieren und Nazis? Klingt nach einer ungewöhnlichen Mischung. Was es damit auf sich hat, fanden Anna Hödebeck und Leonhard Rosenauer auf dem Nachbarschaftsfest des Museums Europäischer Kulturen heraus.
Die Sonne strahlt während die ersten Besucher*innen im Hof des Museums eintrudeln, die Initiator*innen treffen rasch die letzten Vorkehrungen für das anstehende Event. Während sich einige Kinder zielsicher auf den Mitmachzirkus stürzen, versammeln sich die Erwachsenen vor dem Eingang des MEK. Anlässlich des Internationalen Museumstages hatte das Museum zu seinem ersten Nachbarschaftsfest nach Dahlem eingeladen. Den rund einhundert Besucher*innen wurde ein umfangreiches Programm aus Kuratorenführung, artistischer Performance und einem Mitmachzirkus für Kinder geboten.
„Spurensuche. Mut zur Verantwortung“, so lautete das Motto des diesjährigen Museumstags. In diesem Rahmen führte die Museumsdirektorin des MEK durch die aktuelle Ausstellung CIRCUS. FREIHEIT. GLEICHSCHALTUNG. Die Exposition ist eine Kooperation der Projektgruppe “Circus im Nationalsozialismus” und dem Forschungsprojekt Diverging Fates. Ziel ist es, die Rolle großer Zirkusse in der Zeit des Dritten Reichs aufzuarbeiten. Diverging Fates bemüht sich hierbei insbesondere um die Aufdeckung von Einzelschicksalen jüdischer Artistinnen und Artisten. Dies erweise sich laut den Forscher*innen jedoch oft als schwierig, da viele Zirkusse, sobald sie von nicht-jüdischen Unternehmer*innen übernommen wurden, eng mit Nationalsozialisten zusammenarbeiteten und vom NS-Regime profitierten. Informationen über diese Zeit möchte heute kaum eines dieser Unternehmen preisgeben. Ein weiteres Hindernis ergebe sich dadurch, dass der Zirkus nicht als staatliche Kunst- und Kulturform anerkannt sei und somit kaum Beachtung in der Wissenschaft erfahre. Trotzdem, oder gerade deshalb sind sich alle an der Ausstellung Beteiligten einig: Das Thema Zirkus im Nationalsozialismus sollte an die Öffentlichkeit getragen und der Wert des Zirkus‘ als immaterielles Kulturerbe nicht vergessen werden.
Entertainment mit Tiefgang
Im Anschluss an die Führung präsentierte die Projektgruppe eine Performance zum Leben Irene Bentos, welche als jüdische Zirkusartistin unter der Verfolgung des NS-Regimes litt. Episodisch las die fünfköpfige Crew Textpassagen aus Bentos Biographie vor. Dabei erhielten die Besucher*innen nicht nur einen Überblick über historische Fakten wie Berufsverbote und Ariernachweise, sondern bekamen auch emotionale Szenen aus Irenes Leben zu sehen. Schon in jungen Jahren war sie mit Beleidigungen als „stinkende, dreckige Jüdin“ konfrontiert, woraufhin sie in kindlicher Unsicherheit versuchte sich stundenlang zu waschen. Auch im späteren Leben musste Irene sich – in der stetigen Angst entdeckt zu werden – in Zirkuswagen mit geheimen Gängen verstecken und konnte nur zusammen mit einer Clownsgruppe auftreten. Das Ereignis, welches die Zuschauer*innen am meisten bewegte, war jedoch die Geburt ihres ersten Kindes, das sie unter starken Schmerzen zur Welt bringen musste, da die nationalsozialistischen Ärzte bei einer Jüdin mit den Medikamenten sparten. Das Ganze wurde dramatisch inszeniert und von Jongleur*innen, Trapezturner*innen und Feuerspucker*innen begleitet.
Der Kontrast zwischen Unbeschwertheit und Schrecken, den die Performance bot, liegt auf der Hand und ist gleichzeitig bezeichnend für die Lebensrealität der Artist*innen, die stets im Spannungsfeld der Offenheit und Freiheit des Zirkus‘ und dem unterdrückenden NS-Regime standen.Den Initiator*innen des Nachbarschaftsfests ist es definitiv gelungen, ein ausgewogenes Angebot aus Spaß und geistigem Input zu präsentieren. Mit dem Ende der Show kehrten die Zuschauer*innen zu den festlichen Aktivitäten zurück, jedoch nicht ohne das Stück ausgiebig zu diskutieren.
Weitere Informationen zum Projekt Diverging Fates unter:
http://www.divergingfates.eu/?lang=de