Fake News, Fake Polls? Im letzten Jahr erntete die Meinungsforschung heftige Kritik. Professor Dieter Ohr, Experte für Wähler*innenverhalten, erklärt, was Prognosen so schwierig macht – und warum er trotzdem Optimist bleibt. Von Marius Mestermann.
FURIOS: Im letzten Jahr sind nach dem Brexit-Votum und der US-Wahl kritische Stimmen gegenüber der Wahlforschung laut geworden – viele sprachen von Versagen. War das berechtigt?
Bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl haben die Meinungsforschungsinstitute überhaupt nicht versagt. Die waren eigentlich relativ nahe dran am nationalen Gesamtergebnis, wenn man wirklich nur die politische Präferenzverteilung für das ganze Land betrachtet. Nur in den Bundesstaaten sah es dann etwas anders aus.
Aber es war ja nicht nur die US-Wahl. Auch der Ausgang des Brexit-Votums wurde falsch vorhergesagt. Woran lag das?
Die beiden haben schon etwas gemeinsam. Wichtig für jede Prognose ist eine solide Stichprobe. Die aber ist immer schwieriger zu bekommen. Bei Phänomenen wie der Brexit-Bewegung oder der AfD rechnen einige Befragte die Meinungsforschungsinstitute zum Establishment hinzu. Viele nehmen deshalb an den Umfragen gar nicht erst teil. Außerdem kann man sich nicht darauf verlassen, dass alle Teilnehmer*innen aufrichtig antworten. Das macht es extrem schwer, die genannten Phänomene vorherzusagen.
Was auch nicht angemessen berücksichtigt wird: Bei normalen Stichprobengrößen muss immer ein gewisser Fehlerbereich einbezogen werden. Vor allem bei Mehrheitswahlen sind Stichproben wegen der knappen Ergebnisse dann oft überfordert.
Hat die Öffentlichkeit dazugelernt, sich nicht mehr vollends auf die Ergebnisse aktueller Umfragen zu verlassen?
Ja, das kann man beispielsweise daran ablesen, dass anders über die Projektionen berichtet wird. Mittlerweile ist es Standard, Fehlerbereiche mit anzugeben. Das sensibilisiert dafür, dass sieben Prozent eben doch nur sechs bis acht Prozent bedeuten.
Aus meiner Sicht ist die Kritik an der Wahlforschung meistens aber höchst ungerecht, weil damit ein Präzisionsanspruch erhoben wird, der überhaupt nicht einzulösen ist. Im Moment kann Ihnen beispielsweise kein Meinungsforschungsinstitut, das sich selbst als seriös betrachtet, sagen, welche Chancen die AfD genau hat.
Über Trends sprechen können wir aber trotzdem. Was haben Sie als Fachmann in den letzten Jahren beobachtet?
Der “Megatrend” ist auf jeden Fall eine steigende Volatilität der Wähler. Das bedeutet, dass die Menschen deutlich wechselhafter wählen. Mal gehen sie gar nicht wählen, an der nächsten Wahl nehmen sie dann wieder teil. Zudem entscheiden sich viele Wähler*innen wesentlich kürzer vor der Wahl für eine Partei. Andererseits wäre es auch übertrieben zu sagen, dass die meisten Menschen gar keine feste politische Bindung mehr hätten.
Ein anderes länderübergreifendes Phänomen der westlichen Gesellschaften ist der Rechtspopulismus.
Rechtspopulisten sind ein gutes Stichwort, in den USA ist jetzt einer Präsident. Berichte der Presse fertigt er als “Fake News” ab und stellt die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft infrage. Wie schätzen Sie das ein?
Ich glaube nicht, dass es in Deutschland eine vergleichbare Wissenschaftsfeindlichkeit gibt. Aber selbst in den USA kann ich mir nicht vorstellen, dass wirklich die Mittel gekürzt werden.
In Verbindung mit der Kritik an Wissenschaft wird auch oft der Begriff der “postfaktischen Gesellschaft” genannt. Den halte ich für Unfug. Was spricht denn dafür, dass wir uns heute in einer postfaktischen Epoche befinden im Gegensatz zu den Menschen vor hundert Jahren? Aus meiner Sicht nur sehr wenig.
Warum das?
Heute haben die Menschen im Mittel eine viel höhere Bildung und einen besseren Zugang zu Informationen aller Art. Auch die Qualität, die Vielfalt der Medienberichterstattung ist deutlich höher. Wenn man heute Unsinn verkündet, ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass dem jemand mit Belegen widerspricht.
Sie wirken deutlich ruhiger als manch ein Leitartikel, der das “postfaktische Zeitalter” als Anfang vom Ende der Demokratie beschwört.
Ich möchte problematische Entwicklungen nicht schönreden, aber man muss das relativieren: Die Grundlagen der Demokratie sind heute viel stabiler, als sie es jemals waren.